Arbergen – Amerika, und zurück?

Langsam setzt sich die Erkenntnis durch: Die Bundesrepublik ist ein Einwanderungsland. Um 1850 war das noch anders, da zog es Zehntausende über auch über Bremen nach Übersee. Doch selbst im Boom der Bremer Industrialisierung um 1900 wanderten Kinder von Hofbesitzern aus dem Bremer Umland in die USA.

Über sieben Millionen Menschen waren bis zum 1. Weltkrieg über Bremen und Bremerhaven in die Neue Welt gezogen, am Ende waren es überwiegend Osteuropäer, die diesen Weg wählten. Aber auch aus Arbergen schifften sich vier Söhne der Familie Eitmann beim Norddeutschen Lloyd ein, um ihr Glück in den USA zu suchen. Warum zog es sie in die Ferne in einer Zeit, als die Bremer Industrialisierung in vollem Gange war? Waren es abenteuerlich veranlagte junge Männer oder kann man sie eher als „Wirtschaftsflüchtlinge“ begreifen?

Das ist die Hofstelle Nr. 10 der Familie Eitmann in Arbergen, heute einem Stadtteil von Bremen. Früher war Arbergen ein kleines Dorf, das um 1900 noch zum preußischen Hemelingen gehörte. Im Dorf gab es zwölf „Bauleute“, dazu mehrere Brinksitzer, etliche Köthner und sonstige „Nebenstellen“. Die Bauleute waren die wirtschaftliche und gesellschaftliche Elite im Dorf, besaßen die größten Ländereien und oft ein Dutzend Pferde, ein Zeichen für besonderen Wohlstand. Gemäß der Dorfverfassung konnten sie im Gemeinderat den Ton angeben. Auch Bauer Eitmann war einer der Bauleute,  sein Hof wurde erstmals 1570 nachgewiesen.

Zum Ende des 19. Jahrhunderts ging auch er wie die anderen Bauleute zur ertragreicheren Viehzucht über. Die ganze Marsch sei nur noch Weide- und Grasland, berichtet die Dorfchronik: Anstelle der Pferde würde jetzt viel mehr Rinder, Milch- und Jungvieh gehalten. Sie resümiert: „Durch den Übergang vom Getreidebau zur Viehzucht hat sich der Wohlstand der Bauleute bedeutend gehoben.“ Erstaunlich ist deshalb, dass sich gerade zu diesem Zeitpunkt, um 1900, etliche Mitglieder der Familie Eitmann auf den Weg nach Amerika machten.

Das ist die neunte Generation der Familie Eitmann mit fünf von ihren elf Kindern um . Auf dem Bild, aufgenommen kurz nach 1900 in einem Photostudio im Bremer Ostertor, sind die vier Söhne Hermann-Dietrich, Fritz, Albert und Dietrich zu sehen, das jüngste Kind ist Frieda.

Der Größte auf dem Bild, Hermann Dietrich, sollte den Hof erben. Die anderen drei Söhne, Fritz, Albert und Dietrich traten alle den Weg nach Übersee an. Und auch von den Älteren war Johann schon 1897 in die USA ausgewandert. Den Eitmanns schien es gut zu gehen, davon zeugt auch das neue repräsentative Wohnhaus, das sie 1877 neben dem alten reetgedecktem Gebäude bauen ließen.

Warum sind dann so viele Eitmanns ausgewandert? Es hing wohl mit dem Erbrecht zusammen. Als alleiniger Hoferbe war der an fünfter Stelle geborenen Hermann-Dietrich bestimmt. Dass nicht der Erstgeborene als Hoferbe eingesetzt war, lag daran, dass die souveränen Hofeigentümer schon seit langem frei über die Erbfolge entscheiden konnten. Die nicht ausersehenen Eitmann-Söhne mussten eine andere Möglichkeit finden, ihren Lebensunterhalt zu verdienen: in einen anderen Hof einheiraten, sich als Knecht verdingen, in den entstehenden Fabriken in Hemelingen und Bremen arbeiten oder eben ihre Chancen in Amerika suchen. „Knecht“ oder „Fabrikarbeiter“ bedeuteten aber einen sozialen und wirtschaftlichen Status-Verlust. In Amerika, so glaubten sie wohl, könne es jeder zu etwas bringen. Auswanderung war im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg gerade in Bremen und Umgebung eine besonders plausible Lösung. Immerhin besaß die Stadt einen der größten Auswanderer-Hafen Europas. Wie erging es den Eitmann-Söhnen in Amerika?

Von Johann Eitmann zu John Eitman

Der erste, der nach Amerika ging, war Johann. Da war er 16 Jahre alt, ein in dieser Zeit nicht ungewöhnliches Alter für Einwanderer. Am 24. Juni 1897 kam er mit dem Dampfer „Lahn“ des Norddeutschen Lloyd in New York an, so hält es die Passagierliste im Archiv der New Yorker Einwanderungsbehörde fest. Solche Passagierlisten musste der Kapitän nach Einlaufen des Schiffes der Einwanderungsbehörde übergeben. Diese Listen und  die Daten des Zensus ermöglichen noch heute, Anhaltspunkte für den weiteren Lebensweg von Johann und seinen Brüdern zu gewinnen.

Die Einwanderungsbeamten auf Ellis Island, einer Insel vor Manhattan, überprüften die Passagierlisten des Kapitäns und ergänzten sie mit eigenen Einträgen. Darin hält die Behörde fest, Johann Eitmann habe keinen Beruf, dass er lesen und schreiben könne, seinen letz1ten Wohnort in Arbergen hatte und dass er in New York bleiben wolle. Skurrill wirken die Fragen, ob der Einwanderer Anarchist oder Polygamist [also mehrfach verheiratet] sei. Wie hätte die Einwanderbehörde das bei der Massenabfertigung der Passagiere aus den einlaufenden Schiffen prüfen sollen? Einen internationalen Datenaustausch gab es seinerzeit nicht. Und welcher Anarchist hätte die Frage nach dieser politischen Überzeugung aus freien Stücken bejaht?

Johann gab weiter zu Protokoll, er habe sein Ticket selbst bezahlt, dazu konnte er eine Barschaft von 60 $ vorweisen. Daraus konnten die Beamten schließen, dass er nicht einer jener „Kontraktarbeiter“ war, denen der künftige Arbeitgeber die Überfahrt finanziert hatte. Diese Praxis war seit 1885 verboten. Johanns Behauptung, er habe Familienangehörige, sollte wohl den Eindruck vermitteln, er könne im Notfall auf familiäre Netzwerke zurückgreifen und sei nicht von Armut bedroht. Die Familie weiß nichts mehr von solchen Verwandten. Dann wäre der kleine Johann mit 16 Jahren aufs Blaue nach New York gereist. Vielleicht gab es aber schon andere Arberger in New York, die ihm bei seiner Ankunft weiterhelfen konnten, heute würde er ein „unbegleiteter Jugendlicher“ genannt.

13 Jahre später ist aus Johann schon John geworden, so vermerkt es der Zensus von 1910. Als ein Bruder später nach Kontakten vor Ort gefragt wird, schreibt er auch den Nachnamen nach englischer Art: Eitman. Inzwischen nähert er sich seinem 30ten Lebensjahr und wird als Inhaber eines Lebensmittelgeschäft in Washington Heights an der Nordspitze von Manhattan erfasst, ein Stadtteil mit vielen Immigranten aus Deutschland.

Eitmann & Hilker, Groceries prangt auf dem Firmenschild über dem Laden. Hilker stammt aus dem Örtchen Hasbergen bei Osnabrück und ist sein Kompagnon. Ob dieser Partner schon vorher immigriert war, ob die Geschäftspartner die Auswanderung gemeinsam geplant hatten, das wissen wir nicht.

Aber wir wissen, dass Netzwerke für alle Auswanderer eine große Rolle spielten. Wann ist die beste Zeit für die Ankunft, welche Reederei ist die beste für die Überfahrt, auf welche Gefahren und Betrügereien ist zu achten, wie finde ich eine Wohnung und Arbeit, wie ist der Alltag in Amerika, all dies und mehr konnte man von Bekannten erfahren, die schon „drüben“ waren. Auch die Besuche der Auswanderer in der alten Heimat brachten immer wieder aktuelle Nachrichten ins Dorf. Selbst der Kompagnon Hilker plant bei einer Heimatreise von 1911 einen Abstecher nach Arbergen, so kündigt es Johann seinen Eltern auf einer Postkarte an. Als Fritz einmal von einem Heimaturlaub zurückkehrt, befindet sich der Sohn aus einer anderen Famile von Arberger Bauleuten in seiner Begleitung.

Zurück zu John: irgendwann trennen sich die Kompagnons Hilker und Eitmann. 1917, zwanzig Jahre nach seiner Ankunft, erscheint John als Kaufmann in einem Spezialgeschäft für Kaffee und Tee. Er ist zwar nicht mehr der Inhaber, aber das Geschäft liegt auf Long Island. Dort findet sich eine zahlungskräftigere Kundschaft als im Immigrantenviertel, wahrscheinlich hat er sich beruflich nicht verschlechtert. Für seine inzwischen „amerikanische“ Flexibilität spricht auch, dass er 1942, da ist er schon 62 Jahre alt, als Mitarbeiter einer Großbank, dem Irving Trust, in den Akten auftaucht. Damit arbeitet er wieder in New York, nur diesmal liegt sein Arbeitsplatz im Herzen der Stadt, in einem beeindruckenden Wolkenkratzer an der Ecke Broadway und Wall Street. Es scheint, John hat sich seinen amerikanischen Traum erfüllt.

Fritz und Albert – Auf den Spuren des großen Bruders

Als Fritz und Albert sich auf den Weg machten, in den Jahren 1904 und 1905 – sieben und acht Jahre nach der Abreise von Johann, hatten sie schon eine Adresse jenseits des großen Ozeans. Fritz beginnt auf den Pfad, der ihm der Ältere bereitet hat: er startet in der Firma Eitmann & Hilker. 1910 nennt er sich schon Fred, seinen Bruder bezeichnet er in den Dokumenten als „head of family“, also Familienoberhaupt. Sieben Jahre später braucht er diesen Rückhalt nicht mehr, er lebt jetzt in Harlem, ab 1930 verzeichnet ihn das Adressbuch in Yonkers, einem südlichen Speckgürtel von New York.

Auch Albert gibt bei der Einreise die Adresse von Johann an, nennt ihn aber lieber John Eitman. Mit dieser Garantie ist er von der Vorschrift befreit, die sonst geforderten 50 Dollar vorzuweisen. Acht Jahre später hat er Josephine geheiratet und ist Vater einer Tochter, ein „großer Halt“, wie er nach Arbergen schreibt. 1920 – mehr wissen wir nicht – bezeichnet er sich bei der Steuererhebung als Kaufmann bei der Drakes Brothers Company, einer großen renommierten Bäckerei mit Filialen in Brooklyn, Harlem und Boston. 1940 arbeitet er noch immer in diesem Gewerbe, da nennt er sich aber nicht mehr „Kaufmann“, sondern nur noch „Fahrer“.

Von den fünf Eitmann-Brüdern, die nach Amerika ausgewandert sind, haben es drei, John, Fred, Albert, „zu etwas gebracht“, nicht der große Wurf vom Tellerwäscher zum Millionär, aber ein Leben ohne Not, in Freiheit, einen mehr oder weniger bescheidenen sozialen Aufstieg realisierend. In Arbergen wäre dies nicht möglich gewesen, zu starr waren noch die gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse. Nach heutigem Sprachgebrauch waren die drei Brüder „Wirtschaftsflüchtlinge“.

Ob der Moloch New York für sie ein „Traumland“ war, wissen wir nicht. Aber als Nicht-Erben sind sie dem zweitrangigen Status gegenüber den Statthaltern des Bauernhofs entronnen. Gelegentlich spielen sie auch mit dem Klischee vom „Wunderland“ USA: Als Albert drei Jahre nach seiner Ankunft das „Dreamland“ besucht – einen riesigen Vergnügungspark für die Millionen der Großstadt -,  läßt er sich von einem Zeichner auf einer Lederpostkarte porträtieren. „Souveninir of Dreamland“ verkündet doppeldeutig die Aufschrift der Karte. Albert vermeldet aber nur lakonisch: „Das bin ich. Das Bild ist ganz gut geworden.“

Georg und Diedrich – die Glücklosen

Als Fritz 1905 den Boden der USA betrat, begleitete ihn sein großer Bruder Georg, mit 23 Jahren war er acht Jahre älter. Georg gibt an, er sei schon vier Jahre zuvor einmal bei seinem Bruder Johann gewesen. Doch diesmal wird Georg nicht ins Land gelassen. Die Einwanderbehörde attestiert ihm wohl, dass er bei guter Gesundheit sei, das war das wichtigste Kriterium für eine Einreise. Eigentlich war Georg ein Modell-Einwanderer. Die Hürde, die möglicherweise zu hoch für ihn war, war der „literacy test“, eine Art Intelligenztest.

Hier musste man seine intellektuellen Fähigkeiten demonstrieren, z.B. ein Karo malen oder das Puzzle eines menschlichen Kopfes korrekt zusammenfügen. Zu dieser Erklärung, warum Georg wieder zurückgeschickt wurde, würde auch passen, dass man ihn in der Familie als „malle“ (norddeutsch für „verrückt“) einstufte. Georg musste zurückreisen, anschließend verdingte er sich in Arbergen als Knecht, wo er 1937 starb.

Von Bruder Diedrich wissen wir nur wenig. 1907 taucht er zum ersten Mal in den Dokumenten der Einwanderungsbehörde auf, am Ende wird er 1917 auch von der Musterungsbehörde erfasst. Dort ist festgehalten: „patient in state hospital“ und in einer anderen Rubrik ist eingetragen: „in an insane hospital“. Diedrich war also offensichtlich geisteskrank, Das passt aber nicht zusammen mit der Familienüberlieferung, danach sei er schon vor dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt und in Arbergen geblieben. Glaubwürdiger ist wohl das Dokument der Musterungsbehörde, wahrscheinlich ist er erst später nach Arbergen zurückgekehrt.

Für die neue Heimat in den Krieg ziehen?

Georg musste nicht in den Krieg und sein Leben auf Seiten der USA einsetzen, gegen das Deutsche Reich. Und seine Brüder? Zuerst einmal ist die Staatsbürgerschaft entscheidend.

John hat 1911 seine Absicht erklärt, Bürger der USA zu werden zu wollen. In dieser Declaration of Intention muss er beeiden, dass er alle Loyalitäten zu seinem bisherigen Staatsoberhaupt, dem deutschen Kaiser Wilhelm II, widerrufe und die Absicht habe, „in good faith to become a citizen of the United States of America“. Angeschlossen ist der Antrag auf Einbürgerung (Petition for Naturalization). Ob er aber die amerikanische Uniform getragen hat, davon weiß die Arberger Familie nichts zu berichten. Für Fritz sind vergleichbare Dokumente nicht vorhanden.

Albert hatte die gleiche Absichtserklärung wie Johann abgegeben, der Musterungsbehörde teilt er aber mit, dass er vom Militärdienst befreit werden möchte, um seine Frau und die fünfjährige Tochter unterstützen zu können. Er versucht, um den Dienst in der Army herumzukommen. Spielten die Loyalitäten zur „alten Heimat“ doch eine große Rolle? Oder gab die neue Familie den Ausschlag?

 

 

Nachrichten über den Grossen Teich
Klaus Buhr besitzt heute noch etliche Nachrichten der Auswanderer: „Es gibt so gut wie keine Briefe, die waren wohl zu faul zum Schreiben. Aber Postkarten.“ Die Postkarten zeigen beeindruckende Bilder von New York, vom Schiffsdeck oder Kitschiges. Selten geht der Text der New Yorker aus der Bauernfamilie über herzliche Grüße zu Ostern, Weihnachten oder zum Geburtstag hinaus. Albert schrieb manchmal auf Deutsch, manchmal auf Englisch. Fritz unterschrieb auch als Fred, von John gibt es nur wenig Karten.

Die Postkarten zeigen beeindruckende Bilder von New York, vom Schiffsdeck oder Kitschiges. Selten geht der Text über herzliche Grüße zu Ostern, Weihnachten und zum Geburtstag hinaus.

Die ultimative Form der Korrespondenz zwischen den Familienmitgliedern auf beiden Seiten des Atlantik erreicht Albert,  als er schreibt: „Liebe Schwester. Diedrich erzählte mir, daß ich Dir mahl schreiben sollte. Damit habe ich ein Par Zeilen geschrieben es grüßt Dein Bruder Albert“. Damit ist alles gesagt. Das Dorf liegt inzwischen in weiter Ferne.

 

Nach einem Manuskript von Diethelm Knauf, dem Digitalem Heimatmuseum freundlich zur Verfügung gestellt und von Achim Saur für diesen Beitrag bearbeitet.

Bilder: Alle Fotos mit Bezug zur Familie Buhr stammen aus ihrem Familienalbum. Passagierliste und Abbildung zum Intelligenztest stammen aus dem Ellis Island Immigration Museum, New York, die Postkarte aus Arbergen von Werner Möller, Arbergen

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