Neun Monate hatte es nach der Invasion in der Normandie gedauert, bis die Alliierten die deutschen Truppen hinter den Rhein zurückgedrängt hatten. Nachdem sie am 24. März ’45 den Rhein überquert hatten, ging alles ganz schnell. Nicht einmal vier Wochen später standen britische Soldaten vor den Toren Bremens. Eine Bremerin notierte ins Tagebuch: „Was wird, weiss niemand, wilde Gerüchte laufen um. Man fasst nicht, was geschieht, man fühlt nur einen wehen Schmerz.“
Siebzig Jahre später versuchte das Geschichtskontor des Kulturhauses zusammen mit dem Bremer Historiker Diethelm Knauf den Augenblick einzufangen, als die Bremer dem „Feind“ ins Auge sehen mußten. Als englische Soldaten in die Häuser eindrangen, um sie nach versteckten Soldaten und Waffen zu durchsuchen oder mit ihrem Platoon in die Privatheit der Familie einbrachen, um hier Quartier zu machen. Diethelm Knauf recherchierte in britischen und amerikanischen Archiven, Achim Saur durchforstete das Staatsarchiv auf der Suche nach Tagebuchaufzeichnungen, welche die unmittelbaren Eindrücke der Bremer dokumentieren. Doch wie nahe kann man dem überhaupt kommen? Diethelm Knauf:
Weg der 51. Lowland Division nach Bremen, Divisionschronik, Staatsarchiv Bremen
Auch die schottische 51st Highland Division war eine der drei britischen Divisionen, die sich bis Mitte April bis nach Bremen vorgekämpft und die Stadt umklammert hatten. Dort schöpften sie erst einmal Luft, bevor sie sich für den Angriff auf die Bremen vorbereiteten. Doch die Eroberung fiel den Einheiten relativ leicht, so auch Diethelm Knaufs Eindruck nach den Gesprächen mit den britischen Veteranen. Die Hölle hatten diese Verbände bei den Kämpfen im Reichswald erlebt, zwischen Gennep und Goch, auf den letzten Kilometern beim Vormarsch zur Überquerung des Rheins. Sich unter andauerndem Artillerie- und Granatfeuer vorkämpfen zu müssen, traumatisierte. Kompanien mußten aus dem Kampfgebiet gezogen werden, sie waren unfähig weiter zu kämpfen, es kam zu „totalen Besäufnissen“. (D. Knauf) Doch auch in und vor Bremen erlebte Peter White von der 51st Highland Division erschütternde Episoden. In seinen Erinnerungen „With the Jocks“, so nennt er seine schottischen Soldaten, beschreibt er den Kampf um Uphusen. „Jerries“ sind die deutschen Soldaten. Es liest Wilfried Stüven von der „Speicherbühne“ im Speicher XI.
Die Wahrnehmung der Deutschen durch die britischen Soldaten war natürlich vielfältig. Da gab es Soldaten, die mit dem Bewusstsein aufbrachen, für Freiheit und Demokratie zu kämpfen. Andere hatten ihre Eltern beim Bombenangriff auf London verloren, dann gab es auch weitaus persönlichere Motive, auch Hass. Die anfänglich patriotischen Motive traten in den Hintergrund, so erzählt es Bill Robertson, der mit 18 Jahren mit der 51. Highland Division nach Deutschland zog.
Der Amerikaner Tony Vaccaro, der später ein bekannter Fotograf werden sollte, hasste die Deutschen. Weil sie ihn zum Töten gezwungen hatten. Auf einen Menschen zu zielen, sei seine „traumatischste Erfahrung“, erzählt er. Ihm blieb nichts, als diesen Schrecken mit der Kamera festzuhalten. Als er nach dem Ende der Kämpfe mit seiner Kamera durch das besiegte Land zog, empfand er dennoch Anteilnahme mit den Bewohnern der zerstörten Städte. Eine Aufnahme aus Bremen drückt dieses Mitgefühl aus. Mit dem Blick auf die Fußspuren im Schnee und das rauchenden Ofenrohr dokumentierte er, unter welch erbärmlichen Umständen zahlreiche Bremer den Winter zu überleben versuchten, bewahrte das Elend im Bild. Das war nicht der Blick eines überheblichen Siegers.
Solcher Großmut war sicher nicht die Regel. Allein die Begegnung mit der brutalen Kriegsführung der Waffen-SS veränderte einen Soldaten. Doch den größten Schock löste für John MacKenzie von der 51. Highland Division die Befreiung des Konzentrationslager Bergen Belsen aus, erst nach der Eroberung Bremens. Auf diese Hölle waren sie nicht gefasst. Dennoch spricht er davon, er hätte immer zwischen den Deutschen und den Nazi unterschieden. Das Merkwürdige sei nur gewesen, alle Deutschen hätten ihm erzählt: „Ich nix Nazi.“ [zum Video]
Eine Erzählung von der großen Versöhnung nach dem Kriegsende, von Marshallplan, dem betörenden Kulturgut wie „Kaugummi und Perlonstrümpfen“ findet sich nicht in den Erinnerungen der britischen und amerikanischen Veteranen, wohl aber immer wieder Wahrnehmungen, die nicht von nationalistischer Feindschaft geprägt sind. Der „Leitfaden für britische Soldaten“ aus dem Jahr 1944 verordnete ihnen die richtige Haltung für den Umgang mit den Besiegten: „Es ist (…) gut für die Deutschen, wenn sie sehen, dass Soldaten der britischen Demokratie gelassen und selbstbewusst sind, dass sie im Umgang mit einer besiegten Nation streng, aber zugleich auch fair und anständig sein können.“
Wie sah es auf der Seite der Bremer aus? Das Staatsarchiv bewahrt eine Sammlung von Tagebüchern auf, die ungefiltert die ganz persönliche Wahrnehmung der britischen und später amerikanischen Soldaten und der Besatzungspolitik festhalten: im Tagebuch muß niemand auf spätere Leser Rücksicht nehmen. Dazu kommt eine Sammlung von Texten, die aufgrund eines Aufrufs von Bürgermeister Wedemeier 50 Jahre nach Kriegsende für den Weser-Kurier geschrieben wurden. Aus beiden Textarten haben wir eine Collage für die Veranstaltung zusammengestellt, welche die Stimmung in diesen Texten wiederzugeben versucht.
Vorgetragen von Wilfried Stüven, Christine Spiess, Jürgen Puls, Janine Classen (v.l.n.r.)
Angst vor dem Feind
Die letzten Kriegstage hatten die Bremer fast ununterbrochen im Bunker verbracht. Bis in den April 1945 war auf jeden Fliegerangriff Entwarnung gefolgt, jetzt beschoß die britische Artillerie die deutschen Stellungen und die Stadtviertel, die Detonationen rissen kaum ab. Nicht jeder wagte sich in den Feuerpausen nach Hause oder vor den Bunker. Danach aber sehnten sich die Menschen, denn in den Bunkern herrschte eine unerträgliche Hitze. Inzwischen lag das Hastedter E-Werk in Schutt und Asche, damit konnten die Ventilatoren der Bunker nur noch notdürftig per Handbetrieb für Frischluft sorgen. Ein Tagebuchschreiber berichtet von über 40 Grad Hitze und Sauerstoffmangel, in dieser Hitze hätten sieben Menschen begonnen, irre zu reden.
So sahen zahlreiche Bremer den „Feind“ erst, als sie den Bunker verließen. Die britischen Soldaten befahlen alle Menschen auf die Straße, um nach eventuell noch verborgenen Soldaten und Waffen zu suchen. In gleicher Weise, wie sie alle Häuser eines eroberten Stadtgebiets absuchten. Von der nachhaltigen Wirkung der NS-Propaganda auf die Menschen und ihre Angst gibt eine Kindheitserinnerung Zeugnis, die 1995 für den Weserkurier aufgeschrieben wurde. Nach der Kontrolle des Bunkers schickten die Soldaten die Leute wieder in den Betonklotz, dabei verteilten sie an die Kinder Schokolade und Kaugummi. Drinnen mußten sie das aber wieder den Erwachsenen geben, „weil man glaubte, dass die Süßigkeiten vergiftet waren.“
Der spätere Senator Günther Czichon sah die Angst aber auch auf der anderen Seite. Ihn hatte man „wegen seines Schulenglisch“ an die Tür geschickt, um den Soldaten zu öffnen. „Ein baumlanger dicker Schwarzer hielt mir seine Maschinenpistole vor den Bauch und fragte, ob deutsche Soldaten im Haus wären. Ich verneinte und lud ihn zum Beweis meiner Behauptung ein, sich doch selbst drinnen umzusehen. Mein amerikanischer Freund hatte wohl schon einiges über Heimtücke junger deutscher ‚Werwölfe‘ gehört. Er ging fluchend weiter, und ich hatte das Gefühl, dass seine Angst kaum geringer gewesen war, als die meine.“
Unter all den Zeugnissen findet sich nur eine einzige Beschreibung, bei der sich die Erleichterung über das Kriegsende zu einer wirklichen Feier verwandelt. Wahrscheinlich stammt der Schreiber aus einem der Arbeiterquartiere, dort hatte man die Verfolgung ihrer Organisationen und den Terror des Regimes am direktesten zu spüren bekommen. „Wir erlebten den Einmarsch der Truppen als Befreiung und tanzten, lachten und weinten mit der ganzen Nachbarschaft vor dem Bunker. Der Krieg war für uns aus. Nichts anderes zählte als die Befreiung von Terror und Krieg. Was jetzt kommen würde, konnte nur besser sein.“
Zwangsarbeiter begrüßen die britischen Truppen, © Imperial War Museum, London
Nach der Angst – Begegnungen im Besatzungsalltag
Ein amerikanischer Schulungsfilm für Besatzungssoldaten, der auch in der britischen Armee verwandt wurde, warnte: „Sie werden wunderschöne Landschaften sehen. Lassen Sie sich nicht täuschen. Sie sind im Feindesland. Seien Sie allem und jedem gegenüber wachsam und mißtrauisch.“ Die Direktive warnte vor Fraternisierung, das deutsche Volk sei kein Freund. Und der Film „Your Job in Germany“ erklärte den GI’s die düstere Geschichte vom deutschen Militarismus und allgegenwärtigen Nazis im Untergrund. In der British Zone Review entspann sich aber schon bald eine lebhafte Diskussion, ob man den Bewohnern der der verwüsteten Städte nicht mit einem „bescheidenen Maß von Mitleid“ begegnen dürfe.
So finden sich in den Bremer Erinnerungen immer wieder Geschichten, dass der „Feind“ sich ganz anders als erwartet verhalten hätte. Da ist die Rede von überraschend „freundlichen Gesichtern“, Besatzungssoldaten bewahren einen jugendlichen Wehrmachtsdeserteur vor der obligatorischen Gefangenschaft, und in den erzwungenen Hausgemeinschaften in beschlagnahmten Häusern kommt es zu Kooperation, die Briten helfen beim Umzug, es gibt gemeinsame Küchennutzung. Und bei Erhalt eines neuen Marschbefehls hinterläßt die Besatzung der Bremer Familie auch einmal ein erbeutetes Reh und gibt den Ratschläge, wie man das Schwein im Stall trotz Verbot schlachten könne. Damit löst sich das Zerrbild des Feindes auf und der Zeitzeuge erinnert sich: „Von dieser Stunde an waren es für uns auch Menschen wie wir.“
Andererseits gingen die einrückenden Kampftruppen bei ihrer Suche nach Waffen und versteckten Soldaten in den Bremer Häusern nicht immer zimperlich vor, eine pflegliche Behandlung der für die Truppe beschlagnahmten Wohnungen war angesichts dieser Männergruppen auch nicht zu erwarten. Die Armeevorschriften konnten persönliche Bereicherung, besonders beliebt waren Uhren, Fotoapparate und andere Wertgegenstände, nicht verhindern. Die Bremer erinnern sich dann an die „rüden Gesellen“ oder „Soldateska“, selten nur sind Relativierungen wie bei einer Einzelhändlerin aus dem Steintor, die in ihrem Tagebuch schreibt: „Zum Glück muss ich sagen, hatten Gerhard und Rudolf mir mal erzählt, dass auch deutsche Soldaten solche Dinge getan haben.“
Ein hochrangiger NS-Mann wie der Direktor der psychiatrischen Heilanstalt in Ellen dagegen beharrte ungeachtet des Desasters auf seiner Weltsicht und hofft selbst drei Tage nach der Eroberung Bremens noch auf eine Kriegswende. Die englischen Soldaten hätten eine „für deutsche Verhältnisse unmöglich Haltung. Die Engländer bezeichnen das als ‚demokratisch‘. Aber man kann überzeugt sein, daß eine solche Haltung ernsten Belastungen nicht gewachsen ist.“
Nach 12 Jahren Nationalsozialismus, der permanenten Beschwörung und dem Glauben an rassische Überlegenheit, nach militärischen Euphorien und am Ende all der Durchhalteparolen folgt die große Sinnkrise. Als am 8. Mai endlich die Kapitulation erfolgt, notiert ein Woltmershauser Postsekretär: „Es ist Frieden in Europa. […] Die Zukunft ist dunkel, wir ohne Vaterland, ohne Recht und ohne Schutz. Sechs Jahre unnütz vertan, nachdenken darf man nicht darüber.“ Nach dem Ende von Reich und Führer versank der alte Glaube ins Nichts, die Leere wurde fühlbar. Die moralischen und gesellschaftlichen Normen, aus denen die Volksgemeinschaft bestehen sollte, brachen zusammen.
Ankommende Flüchtlinge an der Hastedter Heerstraße, © Staatsarchiv Bremen
Interviews mit den britischen Soldaten: Diethelm Knauf
Film und Schnitt: Ulrich Scholz
Film und Schnitt der Lesungen: H.Hackbarth
Text: Achim Saur
Fotos: Imperial War Museum, London, Staatsarchiv Bremen, Tony Vaccaro
Die Bremer Erinnerungen bewahrt das Bremer Staatsarchiv in seinen
Beständen 7,500 und 9, S 9 – 25 auf.
Die Erinnerungen weiterer britischer Soldaten sind im Audioarchiv des
Londoner Imperial War Museum zu finden.
In seiner Reihe „Bildergedächtnis“ hat das Kulturbüro Bremerhaven 2015 eine DVD veröffentlicht, in der auch Bremerhavener Zeitzeugen über die Situation im Frühjahr 1945 sprechen. Und wie in der Veranstaltung im City 46 kommen auch die britischen Soldaten Bill Robertson und John MacKenzie dort ausführlich zu Wort.