1913 – Amok in der Marienschule

Am 24. Juni zog ein endloser Trauerzug von St. Marien zum Waller Friedhof. Beerdigt wurden an diesem Tage vier sechsjährige Schülerinnen der katholischen Marienschule am Steffensweg, die dem Amok eines „Lehramtskandidaten“ zum Opfer gefallen waren. Umstritten war, handelte es sich um die Tat eines Wahnsinnigen oder stand sie im Zusammenhang mit den konfessionellen Spannungen im Kaiserreich?

Was war geschehen? Die „Bremer Nachrichten“ schrieben: „Der Vorgang, der sich gestern vormittag in der katholischen Marienschule ereignete, ist so grausig […], daß man immer noch die Empfindung nicht unterdrücken kann, es müsse etwas eintreten, das die quälenden Bilder verwischt, sie unwirklich macht und die beispiellose Tat als ein wirres Traumgebilde erscheinen läßt.“

Hermann Sandkühler von der St. Marienkirche hat die Tat genau rekonstruiert. Der 30jährige Attentäter kam aus der Neustädter Oderstraße, wo er eine möblierte Unterkunft gefunden hatte. Bewaffnet mit fünf Pistolen und 1000 Schuß Munition drang er in die Schule ein, stürmte ein Klassenzimmer und feuerte blindlings auf die Kinder, auf den Fluren setzte sich die Schießerei inmitten der panisch flüchtenden Kinder fort. Am Ende wurde er vom Schuldiener Butz und dem Lehrer Möllemann überwältigt, dabei erhielt der Lehrer lebensgefährliche Verletzungen. Vier Kinder starben noch am gleichen Tag, die Zeitung spricht von zwölf verletzten Mädchen, ein Opfer erlag seinen Verletzungen erst nach dem großen Trauerakt.

Reichsweit berichtet die Presse, auch die New York Times schreibt über den Amoklauf im Bremer Westen. Schon bald mischt sich eine politische Auseinandersetzung in das Entsetzen über das Geschehen. Es geht um die Frage, handelt es sich bei dem Täter um einen Geistesgestörten oder gibt es auch konfessionelle Motive. Die Bremer Nachrichten schreiben: „Es hatte sich bei ihm die fixe Idee gebildet, daß der Katholizismus und insbesondere die Jesuiten an allem Unheil der Welt schuld seien.“ Katholische Blätter vermuten, es handele sich um einen Fall von protestantischem Fanatismus. Die „Germania“, das Organ der katholischen Zentrumspartei schreibt. „Wenn wir den protestantischen Hetzereien gegen die Katholiken diese furchtbare Tat aufs Konto setzen, so lassen wir uns nicht durch den Einwand beirren, daß der Mörder ja irrsinnig sei. Wodurch ist er denn irrsinnig geworden? Eben durch seine völlige Hingabe an die antikatholische Verhetzung.“ Noch 1949 stellte der pensionierte Schulleiter der Marienschule in seiner Schulchronik diesen Zusammenhang her.

Trauerzug im Steffensweg

Die „Bremer Nachrichten“ beharrten dagegen auf dem ärztlichen Befund aus der Osterholzer Nervenanstalt, in die der Täter eingewiesen worden war: ein Geisteskranker. Auch der Psychiater Frank Schwerdfeger kam aufgrund der jüngst aufgetauchten der Krankenakte zum Ergebnis, der Täter habe an Schizophrenie gelitten. Dennoch bleibt die Frage, warum sich dieser Wahn ausgerechnet gegen die Marienschule gerichtet hatte.

Die Antwort scheint auch mit den konfessionellen Spannungen des Kaiserreichs zu tun zu haben. Das Bismarcksche Vorgehen gegen den Katholizismus, der sogenannte „Kulturkampf“, war nach der Jahrhundert wohl ad acta gelegt, aber noch immer galt das Jesuitengesetz von 1872, das die Aktivitäten dieses katholischen Ordens zwar nicht mehr verbot, ihm aber enge Grenzen setzte. Auch der Bremer Amokschütze nannte die Jesuiten als Quell allen Übels. Dabei konnte er sich auf das Schriftgut eines aufblühenden protestantischen Vereinswesens beziehen.

So verdreifachte sich beispielsweise die Mitgliederzahl des militanten „Evangelische Bundes“ von 1902 bis 1914, eine Vereinigung vorrangig von Lehrern und Pastoren. Auch dieser Verein wird in der Schulchronik der Marienschule von 1949 erwähnt: „Eine andere Gruppe von Gegnern umfasste die evangelischen Christen, die dem ‚Evangelischen Bund‘ angehörten. Ihre Gegnerschaft bezog sich nicht auf einzelne katholische Einrichtungen, sondern auf den Katholizismus überhaupt. Im Hinblick auf das protestantische deutsche Kaiserhaus, betrachteten sie sich als die geborenen und berufenen Vertreter des Deutschtums, die Katholiken aber wegen ihrer Bindungen an das ‚ultramontane‘ Oberhaupt der katholischen Kirche in Rom als undeutsch und international.“

Inwieweit solche Strömungen den Amokläufer motiviert hatten, läßt sich nicht belegen. Auffällig ist aber, daß auch er aus einem Pastorenhaus stammte und den Lehrerberuf anstrebte. Die „Bremer Nachrichten“ mochten solche Zusammenhänge nicht ausloten. Sie bemühte sich vielmehr, die Wogen zu glätten und schrieb: „Wir haben es mit einem schweren Unglück zu tun, das Katholiken und Evangelische in gleich große Trauer versetzt hat.“

Heute stehen die evangelische Wilhadi Kirche und St. Marien in Nachbarschaft am Steffensweg. Die Geschichte dieser auch oekumenischen Annäherung sollte aber nicht den Blick dafür verstellen, daß fundamentalistische Strömungen in Europa nicht nur in ferner Vergangenheit ihren Raum fanden. Für einen aufgeklärt-hochmütigen Umgang mit rückständigen Fundamentalismen besteht wenig Anlaß.

Text: Achim Saur
Fotos: Geschichtskontor

Literatur:
Hermann Sandkühler, 100 Jahre St. Marien, Bremen 1998
Olaf Blaschke, Das Deutsche Kaiserreich im Zeitalter der
Kulturkämpfe. In: Müller, Sven Oliver (Hg.): Das deutsche
Kaiserreich in der Kontroverse. Göttingen 2009

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