Unzählige Familien trauerten nach 1945 um den Verlust der Heimat, über sieben Millionen Menschen kamen nach Westdeutschland, auf der Flucht vor der Roten Armee oder als Vertriebene. Auch nach Bremen. Margarete Reiter kam als Jugendliche an, Rudi Geisler war noch ein Kind. Beide stammten aus Schlesien, beide lebten bis dahin auf einem Bauernhof. Warmherzig empfangen wurden beide nicht.
„Ich hab ja nur die Polin abgelöst“
Nach langer Irrfahrt klopfte Margarete Reiter nach ihrer Bremer Ankunft im Februar 1948, an die Tür des Bremer „Flüchtlingshauses“ und fand eine Notunterkunft im Bunker vor dem Bahnhof. Und mußte erleben, sie ersetzte nur die bisherige Zwangsarbeiterin:
Auf diese oder andere Art und Weise konnten bis 1950 annähernd 30 000 Menschen aus den deutschen Ostgebieten die Bremer Zuzugssperre umschiffen. Darunter 8000 Schlesier wie Margarete Reiter.
Begründung des Wohnungsamts für die Zuzugssperre, 1946
Der Bremer Anfang war schwer. Vor allem für Menschen, die aus der Landwirtschaft kamen. Konnte ein Danziger Werftarbeiter alle seine Fähigkeiten sofort auch auf einer Bremer Werft einsetzen, standen bäuerliche Familien im Westen mit leeren Händen da. Aufgewachsen auf einem kleinen Hof am Rande des Tausend-Seelen-Dorfes Schlottau bei Breslau, wurde Margarete Reiter über Nacht aus ihrer bis dahin vom Krieg kaum berührten Welt herausgerissen. Da war sie 15 Jahre alt. Weit kamen sie nicht mit ihrem Treck nach Westen. Überholt von der russischen Armee, folgten drei Jahre, in denen sie und ihre Familie von der russischen Besatzung und der polnischen Miliz hin- und hergeschoben wurden.
„Kalte Heimat“
Da hätte die Ankunft auf einem Bremer Hof das glückliche Ende der Odyssee sein können. Hier gab es vertraute Arbeiten und sie mochte die Tiere. Doch jetzt, inzwischen als Achtzehnjährige, war sie nicht mehr die Tochter eines selbständigen Bauern, sondern nur noch die Hilfskraft für einen Bremer Landwirt. Was sie hier erwartete, nennt der Historiker Andreas Kossert „Kalte Heimat“. Damit widerspricht er der Rede von der geglückten Integration der Vertriebenen nach 1945. Denn die Vertriebenen waren alles andere als willkommen. Auf das Drama von Flucht und Vertreibung folgte die bittere Erfahrung von Ausgrenzung und Diskriminierung. Für die Einheimischen waren die Heimatlosen, die buchstäblich nichts mehr besaßen, Eindringlinge. Solidarität zu zeigen und freiwillig mit ihnen zu teilen – das kam den wenigsten in den Sinn. Aus einer Provinz Schleswig-Hosteins erhielt der kommandierende Feldmarschall Montgomery eine Petition mit der Befürchtung: „Der Strom von Fremden aus den Ostgebieten droht unseren angestammten nordischen Charakter auszulöschen.“
Eine Entspannung trat erst ein mit der Schaffung von Ersatz für den zerstörten Wohnraum und dem ökonomischen Aufschwung im „Wirtschaftswunder“. Neun Jahre nach ihrer Ankunft in Bremen fand dann auch Margarete Reiter in einer Borgfelder Siedlung für vertriebene Landwirte eine Neue Heimat.
„Wir kamen an wie die Schweine“
Kam Margarete Reiter als junge Erwachsene nach Bremen, erlebte Rudi Geisler die Abwehr der Einheimischen in einem Dorf bei Syke noch als Kind. Dazu kam, daß der Vater gefallen war, und die Mutter mit ihren zwei Kindern als wenig nützliche Arbeitskraft wahrgenommen wurde. Die enttäuschte Hoffnung auf einen „Westen, der hilft“, begann schon bald nach der Ankunft im Viehwagen.
Ein solcher Transport im Viehwagen in den Westen war nichts Ungewöhnliches, er war die Regel. Zwar gab es im Februar 1946 ein Abkommen zwischen der britischen und polnischen Regierung, daß die zwischen den Allierten vereinbarten Umsiedlungen „in geordneter und humaner Form“ stattfinden sollten. Doch das war bereits eine Reaktion auf eine erste Welle von „wilden Vertreibungen“. Die vereinbarte Umsiedlung mit „rollendem Transportmaterial“ hieß in der Praxis Güter- oder Viehwaggon. Die Produktion von Armut war programmiert in § 8 des Abkommens, wo es hieß: „Den Umsiedlern ist gestattet, soviel eigenes Gepäck mitzunehmen, wie sie in den Armen tragen können, einschließlich Bettzeug und Küchengeräten.“ Die erlaubte Mitnahme von 500 Reichsmark war ein Tropfen auf den heißen Stein, besiegelte nur die Verarmung der Bessergestellten. Der irische Historiker Historiker R. M. Douglas bezeichnet die ethnische Grenzbereinigungen nach 1945 als einen der „größten Fälle massenhafter Menschenrechtsverletzungen in der modernen Geschichte.“ Dem voraus ging die ungeheure Dimension der NS-Terrorherrschaft in Polen, der ein Fünftel der Bevölkerung zum Opfer fiel. Und die von ihr geübte Vertreibungspraktiken – überfallartige Räumung von Dörfern und anschließende Deportation. Vielleicht kann dies die Wiederholung des Geschehens nach dem Kriegsende erklären, eine Rechtfertigung stellt es nicht dar. Ungeachtet der Warnungen vor einer humanitären Katastrophe setzte Churchill auf ein Nachkriegseuropa, in dem die neuen Grenzen mittels „Aussiedlungen“ gezogen werden sollten. „Für Stalin waren Deportationen ohnehin Bestandteil der Politik“, so Douglas.
Ankunft von Vertriebenen auf einem Berliner Bahnhof, Bundesarchiv, Bild 175-13223
Die massenhaften Deportationen waren das Eine. Das Andere war die Abwehr der Vertriebenen in den Besatzungszonen, rund um Bremen in der britischen Zone. Die gigantische Verschiebung der Bevölkerung überforderte die Besatzungsmacht. Nicht nur in den Städten, die durch den Bombenkrieg viel zu wenig Wohnraum auch für die zuvor Evakuierten zur Verfügung stellen konnten. Auch bei der Unterbringung auf dem Lande wurde es enger, die von der Militärbehörde Einquartierten waren für die Betroffenen keine Schicksalgenossen. Gemeinsam hatten sie vielleicht in Schlesien oder Niedersachsen das NS-Regime jubelnd begrüßt, vielleicht waren sie auch Gegner oder Opfer des Regimes gewesen. Das alles spielte jetzt im Alltag kaum mehr eine Rolle – die ehemaligen „Volksgenossen“ waren nun „Fremde“. Die unerwartet ins Dorf gekommen waren, es enger machten und mit anderen Sitten, unbekanntem Dialekt oder auch anderer Religion konfrontierten. Rudi Geisler berichtet von „einfachen Menschen“ in seinem Dorf. Die hätten nichts davon gewußt, daß auch die Schlesier ein „hochzivilisiertes Volk“ gewesen seien, als Bewohner des Ostens seien sie wie „Polacken“ behandelt worden.
Doch Rudi Geisler weiß auch von Ausnahmen wie im Fall eines befreundeten ehemaligen Bremer Schulleiters: „Der hat die fast die gleichen Erfahrungen auf der Flucht gemacht. Der ist nach Schnepke gekommen und hat dort eine tolle Familie gefunden. Der durfte gleich mit am Tisch beim Bauern sitzen, die haben Weihnachten gefeiert, und feiern bis heute gemeinsam. Es gab also auch Menschen, die gesagt haben: Ja, die haben ein schweres Schicksal hinter sich. Und nachdem die gewaschen waren, sahen sie aus wie Mitteleuropäer. Sprechen vielleicht n bißchen anders.“
„Die Schule war wunderbar!“
Für das Ankommen der Kinder im abweisenden Westen spielte die Schule eine entscheidende Rolle. Mit den Lehrern gab es endlich Menschen, die den Status nicht nach dem Schema Alteingesessener oder Neuankömmling bestimmten. Besonders hilfreich war es, wenn sie selbst das Schicksal der Vertreibung erlebt hatten und sich die Gefühlswelt der Kinder vorstellen konnten.
Mit dem Umzug nach Bremen und dem Besuch des Gymnsiums entkamen die Geislers den bedrückenden Verhältnissen des Dorfes, wo man sie allenfalls als billige Helfer auf dem Hof akzeptierte. Doch die Wunden der einstigen Diskriminierungen klingen in den Erzählungen auch nach über 60 Jahren noch an. Für den irischen Forscher Douglas „ist es fast Wunder, daß durch die Integration der Vertriebenen in Deutschland nicht ein dauerhafter europäischer Krisenherd entstanden ist.“
Der zweite Verlust der Heimat
Inzwischen sind die Grenzen wieder durchlässig und Margarete Reiter oder Rudi Geisler haben ihre alte Heimat wieder besucht. Die frühere Hoffnung auf Rückkehr hat sich aufgelöst, die Interviewten haben eine neue Heimat gefunden. Auch sind die alten Orte kaum wiederzufinden. Oder sie haben sich im Zuge der europäischen Agrarpolitik auf eine Weise verändert, daß die alte Kulturlandschaft nicht mehr wiederzuerkennen ist.
Interview mit Margarete Reiter: Sabine Murken, Achim Saur, 2008
Interview mit Rudi Geisler: Kolja Ehmke, Gymnasium Hamburger Str., 2014
Text und Schnitt: Achim Saur
Fotos: Margarete Reiter
Biogas, das Geschäft mit EU-Subventionen,
Norddeutsche Anlage, 2012, Foto: Martina Nolte,
Creative Commons by-sa-3.0 de
Rudi Geisler hat seine Erinnerungen an seine Jugend als Flücht-
lingskind festgehalten in der Veröffentlichung „Tränen am Kornfeld“
(Oldenburg 2008).
Eine Besprechung der „Kalten Heimat“ von Andreas Kossert auf der historischen
web-site der Humboldt-Universität gibt einen Einblick in den Forschungsstand zu
der Integration von Flüchtlinge in die westdeutsche Gesellschaft. >>>