Koks

Aus ganz Bremen zogen die Leute mit dem Handwagen zum Gaswerk, um dort Koks zu kaufen. Dort war er am billigsten.

Alltag in den Bremer Arbeiterfamilien ist das Thema von „Peter Stoll. Ein Kinderleben.“ Verfaßt hat das Buch 1925 der Waller Lehrer Carl Dantz. Dantz unterrichtete anfangs an der Schule am Holzhafen, bevor er Mitte der 1920er Jahre zur Versuchsschule an der Helgolander Straße wechselte. Gegen das herkömmliche Vermitteln abstrakter Kenntnisse vertraten die Lehrer hier eine Pädagogik „vom Kinde aus“. Auch mit Blick auf die Fähigkeiten der Arbeiterkinder bekam der Werkunterricht ein größeres Gewicht als das reine „Wortwissen“. Die Einbeziehung des außerschulischen Alltags spielte eine große Rolle, in der Schülerzeitung beschreiben die Kinder ihre Wirklichkeit. Der „Peter Stoll“ schildert diese Welt, die Carl Dantz aus unmittelbarer Anschauung im Bremer Westen bestens kennengelernt hatte. Im Kapitel „Koks“ beschreibt er die Mühsal rund um das Heizen aus der Perspektive des Arbeiterkindes Peter Stoll.

Carl Dantz, Koks
Vater lag schon drei Wochen krank, und Krankengeld gab es bloß 12 Mark die Woche. Und wir konnten Frau Tietjen die Miete nicht bezahlen. Da sagt Frau Tietjen, wir können das Geld abverdienen, wenn wir ihr im Geschäft helfen, die Besorgungen zu machen. Einen Tag hat sie uns nach Kohlen geschickt, Frida und mich.

Wir holen sie vom Gaswerk, weil sie da billiger sind. Und Frau Tietjen sagt, sie findet das Geld nicht auf der Straße. Wir sind schon öfters dagewesen, und wir gehen immer um sechs Uhr morgens los, daß wir um sieben da sind und gleich an die Reihe kommen. Dann sind wir bis acht zurück und kommen bloß eine Viertelstunde zu spät in die Schule. Wenn wir hinfahren, zieht Frida, und ich passe auf, daß die Säcke nicht geklaut werden, wie das letzte Mal. Zurück ziehen wir beide.

Den Morgen beim Gaswerk ist schon alles proppenvoll gewesen. Weil sie sagen, es kommen neue Preise, und sie wollen alle noch den billigen Koks haben. Der Wind hat gepfiffen, und es hat durcheinander geschneit und geregnet. Man muß immer lange stehen und warten, bis man seinen Schein kriegt. Und Frida hat sich dicht an das Schiebefenster rangedrängt, wo die warme Luft raus kommt, und hat die Hände drangehalten. Im Winter hat sie immer Hände und Füße voll Frostbeulen.

Zuletzt ist ein Mann mit einer Laterne gekommen, der hat uns nach dem Koksschuppen gebracht und der Reihe nach aufgerufen. […] Wir haben drei Säcke aufgeladen gekriegt. Der Wagen hat geknackt, und wir konnten ihn knapp ziehen, weil die Straße glitschig war. Paß auf, sagt Frida, das hält er nicht aus, gleich sitzen wir da mit der Bescherung. Und richtig. Ecke Kaiser- und Grafenstraße ist das Unglück schon dagewesen. Ein Rad vom Wagen ab, und alle Säcke heruntergerollt. Einer geplatzt, die ganzen Koks auf der Straße. Gerade, wo die Elektrischen sich kreuzen.

Erst hat Frida geheult. Ich mußte bloß staunen, wie wir so mit einem Schlag den ganzen Verkehr gestoppt haben. Kuck, Frida, die Elektrischen stehen Polonaise vor unserem Kokshaufen. Da hat sie gelacht. Die Fahrgäste haben geschimpft, und der Schutzmann hat einen Kreis von den Zuschauern gemacht. Zuletzt ist ein Kontolleur von der Straßenbahn gekommen mit ein paar Schaffnern, die haben den Wagen und die Säcke zur Seite gezogen und den Koks mit Füßen aus dem Wege gestoßen. Weil Frida schon wieder am Heulen war, bin ich nach Hause gelaufen und hab Bescheid gesagt.

Frau Tiejens Zimmermieter ist grade dagewesen, der hat sich mit der großen Karre und einer Schaufel auf den Weg gemacht. Und wir haben alles aufgeladen, Koks und Säcke, und den kaputten Wagen obendrauf. Ich bin hinterhergegangen, halb im Schlaf, weil ich ja nicht schieben brauchte. Da hab ich immer an Scharffenbergs Villa in der Deliusstraße denken müssen, wo Mutter manchmal reinmacht. Da ist ein elektrischer Ofen im Zimmer, und vor dem Ofen liegt ein richtiges Tigerfell. Das ist der Platz für unsere beiden Söhne, sagt Fräulein Scharffenberg immer. Und dann streichelt sie den Hund und den Kater. Die liegen den ganzen Tag vorm Ofen und wärmen sich. Wenn ich groß bin, will ich nur so einen Ofen haben und nie wieder Koks fahren.

Frau Tietjen hat geschimpft, wie sie die Bescherung gesehen hat. Vorigemal die Säcke weg, und nun der Wagen kaputt. So teuren Koks kann sie nicht bezahlen! Und die Miete hat sie auch nicht gekriegt! Da ist Frida frech geworden und hat gesagt, ein warmes Zimmer hat sie ja nun, und wenn sie nichts zu leben hat, dann soll sie die Ringe verkaufen, die sie an allen Fingern hat, und sie wäre überhaupt eine Kriegsgewinnlerin.

Unsere Wohnung ist noch kalt gewesen. Der Arzt hat aber gesagt, Vater muß ein warmes Schlafzimmer haben, wenn es besser werden soll. Da sind wir, Frida und ich, den Nachmittag nach dem Hüttenwerk raus gewesen, wo auf den neuen Straßen die Schlacke aufgefahren wird. Da sitzen wohl hundert Frauen und Kinder und suchen sich die Koksstücke heraus. Das ist ein Koksbergwerk, hab ich zu Frida gesagt. Wir wollen uns auch einen Schacht graben. Das ist ein anderer Schnack, als die elende Quälerei vom Gaswerk her.

Der Reprint des „Peter Stoll“, 1978 von Dieter Richter und Johannes Merkel neu aufgelegt, steht in der Präsenzbibliothek des Geschichtskontors im Kulturhaus Walle.

Foto: swb

 

 

 

 

 

 

 

 

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