Alles war knapp

Sigrid Bauermeister, Jahrgang 1936, kam nach dem Krieg als 10-Jährige mit ihrer Familie nach Oslebshausen zurück. Hier erlebte sie eine Kindheit, gepägt vom Mangel am Allernötigsten, aber mit Freiheiten, die in keiner anderen als einer Nachkriegsgesellschaft denkbar sind.

Die Versorgung mit allen Gütern verschlechterte sich dramatisch, das Hungern begann für die Menschen erst nach dem Krieg. In Westdeutschland fielen nach Kriegsende 50% der Getreide-, Kartoffel- und Fleischlieferungen weg, da die „Kornkammer“ und der „Kartoffelkeller“ des Landes in Ostdeutschland, also der sowjetisch besetzten Zone lagen.

Doch der Zusammenbruch der gesamten deutschen Wirtschaft betraf nicht nur die Lebensmittelversorgung. Auch Heizmittel (Kohle), Genussmittel und Kleidung gab es nur noch auf Marken. Die Rationen konnten den tatsächlichen Bedarf bei weitem nicht decken. Eine Umfrage unter 51 000 Bremer Schülerinnen und Schülern aus dem Jahr 1947 ergab: „Nur jedes 5. Kind war ausreichend gekleidet. Es fehlten Oberbekleidung, vor allem Unterkleidung und Strümpfe.“ Ein besonderes Problem waren die Schuhe, die Umfrage ermittelte, dass 624 000 Unterrichtsstunden „wegen Schuhmangels“ ausfielen – weil: die Notlösung, zu klein gewordene Schuhe vorne abzuschneiden, taugte für den Winter nicht.

Ein Klassenfoto von 1948 veranschaulicht die Folgen für die Kinder: Von Schwester zu Schwester weitergereichte Röcke, die zu Kleidern umfunktioniert wurden, ausgeleierte Strümpfe, zerlöcherte Schuhe…

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Am schlimmsten war jedoch der ständige Hunger. Wenn man bedenkt, dass das notwendige Minimum an Kalorien für einen Erwachsenen bei täglich etwa 2000 Kalorien liegt, Lebensmittelkarten und Bezugsscheine ihnen aber nur 1500 Kalorien zuteilten, wird deutlich, dass die ständige Suche nach Essbarem den Alltag bestimmte. Lediglich für Schwerarbeiter und und Schwerkranke gab es Zulagen auf Anweisung des Arztes.

Doch auch diese 1500 Kalorien wurden selten erreicht: 1946/1947 sank die Tagesration in Bremen für einige Monate sogar auf 900 Kalorien täglich. Viele Kinder waren unterernährt, Reihenuntersuchungen aus dem Jahr 1946 ergaben, das traf auf 70 Prozent der Schulkinder zu. 4500 Kinder kamen regelmässig in die Schule, ohne vorher gefrühstückt zu haben, daher waren die Schulspeisungen ab März 1946 für nicht wenige die einzige Mahlzeit des Tages.

Obwohl die Rationen ab 1948 schrittweise anstiegen und andere Zuwendungen den Kindern zugute kamen, reichte dies kaum aus, um den Energiebedarf Heranwachsender zu decken. Trotz unablässigen Hungers lernen zu müssen, war schwierig. Das Jugendamt versuchte dem entgegenzuwirken, besonders unterernährte Kinder schickte es in ein Erholungsheim.

Wer darf ins Erholungsheim? Untersuchung im Gesundheitsamt, 1948  [© Staatsarchiv Bremen]

Die Menschen versuchten sich selbst zu helfen, so gut es eben ging – eine Möglichkeit war der Tauschhandel. In Sigrid Bauermeisters Familie rauchte niemand. Und so konnten die ebenfalls zugeteilten Zigarettenmarken „hochwertig“ umgetauscht werden. Zum Beispiel gegen Öl, das einen hohen Gegenwert hatte und eine Reserve darstellte, für die man bei Bedarf andere, dringend benötigten Lebensmittel eintauschen konnte. Schwarzhandel im Kleinen. „Jeder hat versucht, irgendetwas für die Familie zu bekommen. Die haben gekungelt, alle untereinander.“ Sigrid Bauermeister berichtet auch von der Beschaffung von Lebensmitteln: „Da waren Obstbäume, die hatten wir schon am Tag ausgemacht. Da sind wir dann nachts hin und haben Pflaumen, Äppel und Birnen geklaut, dann in die Hosen gestopft, unten zugebunden mit Schnürsenkeln“. Und dann war da noch der Besatzungssoldat „Clearance“, der ihr „irgendwas zusteckte“. Selbst liebgewonnene Haustiere wie das Kaninchen fielen dem Hunger zum Opfer: „Das war doch der Hansi“.

Kinder taten sich nicht nur zum gemeinsamen Spielen in der Trümmerlandschaft zusammen. Sie gingen auch gemeinsam auf die Suche nach Essbarem. Nach dem Krieg hatten die Eltern kaum Zeit, ihre Kinder rund um die Uhr zu beobachten und sie vor allen Gefahren zu bewahren, zu sehr waren sie mit der Lebenserhaltung der Familie beschäftigt. Jugendeinrichtungen gab es nicht. Die Kinder waren weitgehend für sich selbst verantwortlich, passten auf sich selbst, aber auch aufeinander auf, schlossen sich zusammen. Sigrid Bauermeister wohnte in einer „kinderreichen Ecke. Wir waren Jungens und Mädchen querbeet. Wir haben am Bahndamm gespielt und auch dieses und jenes gemacht.“ Dieses und Jenes konnte durchaus ziemlich abenteuerlich ausfallen:

Ein Sprung aus fünf Metern Höhe – mindestens! -: Eine Mutprobe, die mit einer Erbsensuppe belohnt wurde. Aus heutiger Sicht erscheint das Verhalten der Matrosen nicht sehr kinderfreundlich, vielleicht sogar grausam. Hatten sie doch eine Meute Kinder vor sich, die Hunger hatten. Aber statt ihnen die Suppe einfach zu überlassen, knüpften sie das Sattwerden an die Bedingung, einen waghalsigen Sprung zu riskieren.

Doch solche Gedanken kamen wohl den meisten Kindern nicht, weil die Beschaffung von Lebensmitteln immer eine Art Mutprobe, ein Risiko oder auch nur Arbeit mit sich brachte, ob man nun Besatzungssoldaten zuliebe englische Sätze lernte, in kleinen ungenutzten Flächen Obst und Gemüse anbaute, auf Feldern nach Getreide- oder Kartoffelresten suchte, im Wald wild wachsende Früchte suchte oder nur etwas klaute.Auch Sigrids Eltern waren weit davon entfernt, ihr Kind für solcherlei waghalsige Unternehmungen zu tadeln, im Gegenteil: Die Mutter war froh über jede zusätzliche Scheibe Brot, die durch die Selbstversorgung eingespart werden konnte. Für die Beschaffung von Lebensmitteln, Heizmaterial und was ansonsten brauchbar war, gab es Lob, da die Kinder sich aktiv an der Versorgung der Familie beteiligten.

Sigrid Bauermeister ist wie viele ihrer Generation damit gross geworden, dass es nichts umsonst gab: „Wenn ich etwas bekomme, muss ich vorher eine Leistung bringen. So bin ich aufgewachsen.“

Grundnahrungs- und Heizmittel mussten beschafft werden. Ob sie nun frische Kartoffeln „organisierte“, also mit den anderen Kindern aus dem Waggon auf dem Oslebshauser Verschiebebahnhof geholt hatte, oder noch essbare Kartoffeln mühsam aus einem Feld bereits verdorbener Reste herausgesucht wurden:

Die Suche nach brauchbarer Kohle gestaltete sich ganz ähnlich. Bei Baggerarbeiten in der Weser wurden mit dem Absaugen des Schlicks Kohlereste vom Hafengrund durch die Rohre ans Ufer gespült. Der Bremer Pressefotograf Georg Schmidt dokumentierte das Geschehen und schrieb: „Mit gekrümmten Rücken standen sie vor der Mündung des Rohres, aus dem der dicke Strahl schlammiger Brühe mit dem schwarzen Gold‘ quoll. Selber schon über und über mit Schlamm besudelt, fischten sie nach jedem Kohlestückchen.“
Wenig zu essen, dreimal gewendete Kleider, nichts zum Heizen, eine Kindheit reich an Entbehrungen, nur eine von Leid geprägte Zeit? Der Rückblick von Sigrid Bauermeister fällt überraschend aus:

Eine „glückliche Kindheit und Jugend“, aus heutiger Perspektive wohl nur schwer nachvollziehbar. Wie lassen sich der Hunger, das Frieren im Winter und allgegenwärtiger Mangel mit „Glück“ zusammenbringen? Es scheint, dass abenteuerliches Spielen in Trümmern, von niemandem beaufsichtigt, die Mutproben und die notwendige Selbstorganisation ein Gegengewicht bildet. Es ist offenbar mehr als eine Art „Entschädigung“ für die kargen Zustände. Vielleicht ist mit „Glück“ auch die Erfahrung gemeint, Schwierigkeiten bewältigen zu können und einen Freiraum zu haben, der sie ermöglicht. Vielleicht hat ihr das auf dem Lebensweg geholfen. Das „Trümmerkind“ Sigrid Bauermeister stieg von der Wurstverkäuferin zur erfolgreichen Terminsachbearbeiterin und Kundenbetreuerin auf, die sich ohne Frauenquote während der 60er Jahre in dem von Männern geprägten Umfeld der Stahlwerke durchsetzte und dort 35 Jahre lang beschäftigt blieb.

Interview mit Sigrid Bauermeister: Achim Saur
Fotos (soweit nicht anders angegeben): Bildarchiv Kulturhaus Walle
Videoschnitt: Hacky Hackbarth; VIDOC
Audioschnitt, Bildbearbeitung und Text: Sonia Cantú

 

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