Ein Sack Kartoffeln

Hunger und Kälte, das war Alltag in den Bremer Nachkriegsjahren. Man musste schauen, wie man zu was kam. Egal, ob Kohlen oder Kartoffeln. Das wussten schon die Kurzen und stromerten durch den Hafen. Sigrid Bauermeister wuchs in Oslebshausen auf, dort arbeitete man im Hafen, bei der AG Weser – oder auch bei der Bahn. Daher kannten sich die Familien auf dem Rangiergelände bestens aus. Zum „Organisieren“ nahmen die Kinder ihren Sack schon zur Schule mit.

„… wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens notwendig hat“

Das war der Satz, mit dem der Kölner Erzbischof in seiner Sylvesterpredigt vom Dezember 1946 vielen frierenden Deutschen aus dem Herzen sprach. In Massen zogen auch die Bremer über die Bahngleise, um sich vor allem Kohlen zu beschaffen. In der Not betrieben sie Mundraub. Gegen eine Kriminalisierung dieses Vorgangs richtete sich Kardinal Frings: „Wir leben in Zeiten, da in der Not auch der Einzelne das wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat, wenn er es auf andere Weise, durch seine Arbeit oder durch Bitten, nicht erlangen kann.“

Das stieß bei der notleidenden Bevölkerung auf viel Resonanz , danach nannte man das „Organisieren“ von Lebensmitteln und Kohle „fringsen“. Dem Erzbischof brachte seine Äußerung heftige Kritik ein. Später wollte er an diese umstrittene Aussage nicht gern erinnert werden und betonte vor allem seine anschließende Aussage: „Aber ich glaube, dass in vielen Fällen weit darüber hinausgegangen worden ist. Und da gibt es nur einen Weg: unverzüglich unrechtes Gut zurückgeben, sonst gibt es keine Verzeihung bei Gott.“

Derweil übersetzte der Volksmund den Kardinalsspruch auf eigene Weise und reimte auf die Melodie der Capri-Fischer:

Wenn ein kleines Kind
des abends vor Kälte weint
und das Wetter zum Kohlenklau geeignet scheint
ziehen Gestalten mit Säcken die Bahn entlang
bis der Pfiff einer Lok von fern erklang
und von Mund zu Mund die bange Frage fällt:
Ob er hält? Ob er hält?
Bella bella bella Marie, halt den Sack
heut ist’s so klar wie noch nie
Bella, bella bella Marie – heut oder nie!

Kriminalstatistik 1946
Die kleine Dieberei Oslebshauser Jugendlicher war nur eine winzige Episode im alltäglichen Kampf ums Überleben. Die Bremer Kriminalstatistik für 1946 registrierte bei Einbrüchen in Lebensmittelgeschäften den Diebstahl von 50 Tonnen Zucker, darüber hinaus verschwanden 30 Tonnen Mehl und 10 Tonnen Butter. Verglichen mit dem Jahr 1937 hatte sich die Zahl schwerer Diebstähle verzehntfacht, bei leichten Diebstählen betrug der Faktor sieben. Dazu wurden die Ausgabestellen für Lebensmittelmarken aufgebrochen, der Taschen- und Gepäckdiebstahl hatte sich verdreißigfacht – auch hier hofften die Diebe auf die begehrten Lebensmittelmarken. Der Kriminalist Hans von Hentig konstatiert 1947: „Das Phänomen des Verbrechens hat in Deutschland Umfang und Formen angenommen, die in der Geschichte der westlichen Kulturvölker ohne Vorbild sind.“ Es war diese polizeiliche Betrachtungsweise, gegen die sich der Kölner Kardinal in seiner Sylvesterpredigt wandte.

Am Bahnhof – Tauschbörse des Schwarzmarkts
Die „Versorgungskriminalität“ war Ausdruck des Hungers und der Not in den Nachkriegsjahren. 2400 Kalorien benötige jeder Mensch, das hatte der Völkerbund ermittelt. In Bremen näherte sich diese Zahl 1946 der Tausendergrenze. Doch nicht jede entwendete Kartoffel wanderte direkt in Mutters Küche. Wo große Mengen verschwanden, waren sie für den Schwarzmarkt bestimmt. Eine Reisereportage aus dem daniederliegenden Bremen berichtete: „Auf dem Hauptbahnhof in Bremen ruft der Straßenbahnschaffner mit lauter Stimme durch den überfüllten Wagen: ‚Hauptbahnhof – Schwarzer Markt!‘ Die geflüsterten Angebote auf dem kurzen Weg durch die Bahnhofstraße hätten mir auch ohnedies den Zweck des lebhaften Verkehrs an dieser Stelle klargemacht. Zu allem Überfluß fordert ein plakatierter Aufruf der Bremer Gewerkschaften gerade gegenüber diesem Schwarzmarktgewimmel alle ‚sauberen, pfichtbewußten, anständigen Deutschen‘ zum Kampf gegen Mißwirtschaft, Korruption und Schwarzmarkthandel auf. Von einem besonderen Erfolg dieser freundlichen Aufforderung war nicht viel zu verspüren.“

Umschlag von amerikanischen Nylon-Strümpfen aus dem Marshall-Plan, ein Großteil der Schwarzmarkt-Artikel ging hier im Hafen „verloren“. Nylon-Strümpfe erzielten auf dem Schwarzmarkt Spitzenpreise.


Interview: Achim Saur mit Sigrid Bauermeister, 2005

Schnitt und Recherche: Achim Saur
Fotos: Bundesarchiv 183-R-68236 und 183-R70463, cc-by-sa,
das Hafenfoto hat Georg Schmidt zur Verfügung gestellt.

„Alles war knapp“ >>>

Zum Weiterlesen vgl. die Dissertation von Stefan Mörchen aus dem Jahr 2011, bereits 2006 erschien sein Aufsatz „Echte Kriminelle“ und „zeitbedingte Rechtsbrecher“.

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