Zum 100. Geburtstag des Bremer Sinto und Bürgerrechtlers Ewald Hanstein stellt das Digitale Heimatmuseum einen Monat lang den Dokumentarfilm „Ewald Hanstein in Mittelbau-Dora – 50 Jahre nach der Befreiung“ zur Verfügung. Der Film wurde zum 5o. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora im April 1995 gedreht und 2022 von den Autoren Ralf Lorenzen (Interview) und Jens Werner (Kamera und Schnitt) neu zusammengestellt.
Das Konzentrationslager Mittelbau-Dora lag nördlich von Nordhausen im heutigen Bundesland Thüringen. Größter Einzelstandort sowie Sitz der Kommandantur war das Lager „Dora“ am Südhang des Kohnsteins bei Niedersachswerfen. In diesem Lager wurden Häftlinge interniert, die beim Ausbau und Betrieb der unterirdischen Rüstungsfabrik Mittelwerk GmbH in der Stollenanlage im Kohnstein eingesetzt waren. Dort wurde unter anderem die von Wernher von Braun entwickelte V2-Rakete gebaut, die sogenannte „Wunderwaffe“, mit der die Nazis den Krieg noch gewinnen wollten. Die Zustände dort werden heute als Vernichtung durch Arbeit bezeichnet. Von den etwa 60.000 Häftlinge aus 48 Nationen, die den Komplex durchliefen, starben etwa 20.000 infolge der inhumanen Arbeits- und Lebensbedingungen.
Ewald Hanstein, der im August 1944 aus dem Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau mit einem kurzen Zwischenaufenthalt im KZ Buchenwald nach Dora verlegt worden war, kam eine Woche vor der Befreiung durch die US-Armee am 11. April 1945 auf den Todesmarsch Richtung Elbe, wo er ein paar Tage später in der Nähe von Magdeburg seine persönliche Befreiung erlebte.
Ab der Wende 1989 engagierte er sich auch für die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora, in deren Häftlingsbeirat er mitarbeitete.
Im Film erzählt er von den Zuständen im KZ Mittelbau-Dora, aber auch von seinem Leben davor und danach.
Geburt in Schlesien
„Von uns Sinti denkt man, wir ziehen in der Welt herum, leben in Wohnwagen und sind immer auf Reisen“, beginnt Ewald Hanstein seine Autobiografie „Meine hundert Leben“. „Dabei habe ich mein ganzes Leben lang in festen Wohnungen verbracht, es sei denn, ich wurde gerade mal wieder in ein Lager gesteckt. Geboren bin ich aber tatsächlich auf einer Reise.“ Das war am 8. April 1924, als seine Familie wie in jedem Sommer vor der NS-Zeit mit Pferd und Wagen durch Schlesien zog und in der Garnisonsstadt Oels Station machte.
Riese auf dünnen Beinen
Die Familie gab ihm den Sinti-Namen „Berglein“. Nichts trifft diesen menschlichen Riesen auf dünnen Beinen besser. Er war streitbar und unbequem, versöhnlich und herzlich. Hungrig nach Leben und unendlich humorvoll bis zu seinem Tod im Jahr 2009. Seine Arbeit wirkt bis heute in die Stadtgesellschaften Bremens und Bremerhavens nach.
Drei Konzentrationslager überlebt
Hanstein überlebte die Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, Buchenwald und Mittelbau-Dora und verlor auf diesem Weg fast seine gesamte Familie. Jahrzehnte kämpfte er für eine kleine Entschädigung. Ab den 1980er Jahren wurde er zu einem der Vorreiter der Bürgerrechtsbewegung der deutschen Sinti und Roma. Er baute die Sinti-Vereine in Bremen und Bremerhaven mit auf und war auch Vorsitzender des Landesverbandes deutscher Sinti und Roma. Ab der Wende 1989 engagierte er sich auch für die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora, in deren Häftlingsbeirat er mitarbeitete.
In seinem Arbeitsleben war er Musiker, Grenz-Polizist (in der jungen DDR), Schlosser (u.a. bei Borgward), Textil- und Gebrauchtwarenhändler, Gastwirt, Ladenbesitzer, Scherenschleifer, Tanz- und Musiklehrer.
2006 erhielt Ewald Hanstein das Bundesverdienstkreuz. Wer 2008, wenige Monate vor seinem Tod, in der Stadtbibliothek Bremerhaven erlebt hat, wie Hanstein seiner angeschlagenen Gesundheit ein letztes Mal einen öffentlichen Lebensbericht abrang, hat gelernt, dass die Erinnerung der Überlebenden mit der Zeit nicht verblasst, sondern schmerzlicher wird.
Sein Grab in Bremen-Aumund liegt unweit der 2022 so benannten Ewald-Hanstein-Straße. Am 8. April 2024 wäre er hundert Jahre alt geworden.
Text und Fotos: Ralf Lorenzen