Im November 1952 standen „zwei schüchterne Frauen“ – so der Weserkurier – vor dem Bremer Verwaltungsgericht. Ihre Häuser in der Waller Zwinglistraße hatten den Bombenhagel einigermaßen glimpflich überstanden, jetzt mussten sie gegen Enteignung und Abriss ihrer beiden eingeschossigen Altbremer Häuser streiten. Die sollten einer Großbaustelle weichen, die inzwischen seit sechs Monaten um sie herum tobte: hier baute die „Treuhand“ auf einen Schlag über zwanzig neue Wohnblöcke, die ECA-Siedlung.
Angesichts der katastrophalen Wohnungsnot, annähernd zwei von drei Bremer Häusern waren zerstört oder kaum noch bewohnbar, erschien ein Abriss der beiden Häuser absurd. Über dem Bremer Wohnungsmarkt regierte die „Zuzugsperre“. Warum da bewohnbare Häuser abreißen? Selbst Bremer, die sich vor dem Krieg ins Umland gerettet hatten, durften ohne Genehmigung nicht zurück. Viele drängten „illegal“ über die Landesgrenze, fanden Unterschlupf auf einer Parzelle oder in einem Kellerloch, über dem nur noch Mauerreste standen.
Die Besitzer der beiden Häuser gerieten ins Räderwerk der Wiederaufbaupolitik. Die Brache rund um die Zwinglistrasse war ausersehen für die „ECA-Siedlung“. Hier hatte sich der Bausenator bei einem Wettbewerb um Gelder aus dem Marshall-Plan beworben und den Zuschlag für fast drei Millionen erhalten. Das Bauressort freute sich über das erste „Großbauvorhaben ohne Finanzierungs-Geburtswehen“, so ein Sprecher im Weserkurier. Hier sollten auf einen Schlag 300 neue Häuser entstehen, doch die zwei Häuser waren im Weg.
In einem privatem Brief klagte Hausbesitzer Meyer [Name anonymisiert]: „Jahrelang haben wir beide geschuftet und alles Mögliche an Geld […] angewandt, um all die Schäden zu beheben, und nun will man einfach über unseren Kopf hinweg diese schönen beiden Häuser abreissen.“ Auch das Gericht gestand den beiden Besitzern zu, sie hätten die Häuser einst „unter allergrößter Lebensgefahr gerettet“ – in jenem Gebiet, das im August 1944 von dem schlimmsten aller Bomberangriffen auf Bremen heimgesucht worden war. Vier lange Jahre und durch drei Instanzen hing das Damoklesschwert des Abrisses über den beiden Häusern.
Das Drama für die Familien in der Zwinglistrasse begann im Juli 1951. Da bekamen der Rentner Meyer wie sein Nachbar Post vom Stadtplanungsamt. Ihre Häuser sollten enteignet werden. Dabei unterstellte das Amt, sie lebten in widerrechtlich auf Ruinen aufgebauten Häusern. In dieser Ruinenlandschaft dürfte wegen der noch nicht abgeschlossenen Planung schon seit langem niemand bauen. Deshalb bezeichnete das Amt die beiden Häuser auch nur als „Bauteile“ oder „verwendbare Häuserreste“. Für die Retter ihrer Häuser war das eine Beleidigung sondergleichen. Mit diesem „Skandal“ versuchte Meyer die Presse für seine Sache zu gewinnen. In seinen Briefen an Bremer Nachrichten und Weserkurier machte er aus seinem Herzen keine Mördergrube. Er sprach von den „schikanösen Methoden“ und „Machenschaften“ des Stadtplanungsamts, dem er die „schmückende Krone des Bürokratismus“ zusprach. Was ihn am meisten empörte, die Häuser sollten auch deshalb verschwinden, “um dem geplanten Straßenneubau ein einheitliches Bild zu geben!! […] Komplette Häuser abreißen nur der Verschönerung wegen!“
Die Stadt argumentierte mit dem Allgemeinwohl: den neuen Häusern angesichts der Wohnungsnot. Aber es habe auch äußere Zwänge gegeben: die Ausschreibung für den Wettbewerb habe festgelegt, nur eine Baugesellschaft allein sollte das Vorhaben ausführen. Dafür brauche sie eine Freifläche, nur so könne sparsam und zügig gebaut werden. Während die Anwälte noch ihre Klingen kreuzten, erfolgte im März 1952 der erste Spatenstich und die Baumaschinen ratterten rund um die letzten Häuser der Zwinglistraße. Das Angebot, in eine der Neubauwohnungen zu ziehen, hatten Meyer und sein Nachbar abgelehnt. Für seine Skepsis gegen diese „Serienhäuser“ fand Meyer auch ein Argument. Seinem Rechtsanwalt berichtete er, vor seinen Augen seien beim Abnehmen der Gussformen einige der neuen Häuser zusammengebrochen sei. Sein Kommentar: „Und solcher Elendsbauten wegen beabsichtigt man, zwei […] Wohnhäuser der guten alten soliden Bauweise abzureißen!“
Zehn Monate nach dem ersten Schreiben vom Amt entschied das Gericht für Meyer und seinen Nachbarn. Der Abbruch intakter Häuser diene nicht dem „Allgemeinwohl“. Außerdem habe es sich um eine „vorsorgliche Enteignung“ gehandelt. Als Meyer enteignet werden sollte, habe es noch gar keinen Plan für die ECA-Siedlung gegeben.
Doch die Erleichterung in der Zwinglistraße währte nur kurz, drei Monate später ging der Senat mit neuer Begründung in Berufung: „Die Enteignung der beiden Häuser sei notwendig, weil sie der einheitlichen großzügigen Planung, wie sie der Amerikaner verlange, im Wege stünden. […] Der Amerikaner will als Geldgeber eine gewisse propagandistische Wirkung erzielen.“
Diesmal gaben die angeblich amerikanischen Interessen den Ausschlag, das Gericht entschied für Enteignung. Doch Meyers Anwalt war ein „scharfer Hund“. Als Vorsitzender der „Wählergemeinschaft der Fliegergeschädigten“ war er im Oktober 1951 in die Bürgerschaft eingezogen, dieser Fall war Wasser auf seine Mühlen. Er zog bis vor die höchste Instanz, das Bundesverwaltungsgericht. Dort lag die Sache drei Jahre auf Eis. Wegen dieses schwebenden Verfahrens aber mussten die Bauherren von der „Treuhand“ Konzessionen machen. Sie bauten um die im Wege stehenden alten Häuser herum, der eine Block wurde etwas kürzer und auch ein paar Gartengrundstücke gerieten etwas kleiner.
Der Senat hätte das Verfahren einstellen können. Auch die angeblich so strenge ECA-Kommission hatte inzwischen zugestanden, dass sie mit diesem „Drum-Herum-Bauen“ leben könne.
Doch hinter dem sturen Enteignungsverfahren gegen Meyer & Co gab es plausible Motive. Die offen zu benennen, wäre aber politisch brisant gewesen. Aber Meyer kam dem auf die Spur.
In seinen Prozessunterlagen findet sich ein Schreiben des Bausenators an den Delmenhorster Bürgermeister. Hatte der sich für Meyer eingesetzt? Hier jedenfalls benennt Bausenator Theil die wirklichen Gründe für das Bremer Beharren. „Es handelt sich um grundsätzliche Fragen des Umbaus ganzer Stadtteile, und auch nur deswegen wird der Prozess geführt.“
Der „Umbau ganzer Stadtteile“ bedeutete etwas ganz Anderes als „Wiederaufbau“. Davon aber träumten die ehemaligen Hausbesitzer, sie wollten ein neues Haus auf ihrem alten Grundstück. Aber Baumaterialien waren knapp und die zahllosen Häuser, deren Fassaden noch standen, hätten erst nach vielen Jahren instand gesetzt werden können. So fiel die politische Entscheidung für „Umplanung“ und schnelleres Vorgehen, noch lag das riesige Gelände rund um das Volkshaus brach. Allein in diesem Gebiet gab es über 4000 Grundstücke. Dort und anderswo drohten ähnliche Konflikte wie in der Zwinglistraße.
Aber hinter der „Umplanung“ stand auch ein städtebauliches Leitbild – die „aufgelockerte Stadt“. Im ehemals dicht besiedelten Bremer Westen mit 33 000 Einwohnern sollten künftig nur noch 22 000 Menschen leben. Mit dem Bau von „Zeilenhäusern“ – unabhängig vom ehemaligen Straßenverlauf – entstand mehr Raum, die dicht stehenden Nachbarhäuser sollten der Sonne nicht weiter den Weg in die neuen Wohnungen verstellen.
Den beiden Senioren in der Zwinglistrasse gefielen solche Häuser nicht, in ganz Bremen tobte ein Kulturkampf zwischen den Freunden des Altbremer Haus sowie den Vertretern der damaligen Moderne. In der Zwinglistrasse musste der Bausenator am Ende eine Niederlage einstecken. Vor dem Bundesgericht scheiterte er wieder einmal an der „vorsorglichen Enteignung“. Als die Enteignung ausgesprochen wurde, hatte es noch gar keinen Plan für die ECA-Siedlung gegeben. Das Gericht argumentierte so, wie Meyer einst dem Freund geschrieben hatte: „Sie können ja bauen, wo sie wollen, aber um uns herum.“
Nach all dem Bangen konnten die Retter ihrer Häuser in der Zwinglistrasse bleiben. Auf diese Weise entstand in Bremen ein Ort, an dem das Bremer Traditionshaus und der Nachkriegsstil in unmittelbarer Nachbarschaft aufeinander trafen – wie ein Denkmal für die Konflikte des Wiederaufbaus.
Text und Recherche: Achim Saur
Fotos: Geschichtskontor, Bremer Zentrum Baukultur
Wir danken Günther Schminke für die Vermittlung der Aktenbestände auf dem alten Dachboden, dem Bremer Zentrum Baukultur für die zur Verfügung gestellten Fotos