Bremen – Die große Migrantenschleuse

Platz für 2000 Migranten waren in den Baracken hinter dem großen Verwaltungsgebäude des Auswandereragenten Friedrich Missler, der dieses imposante Gebäude 1906 in Bahnhofsnähe, an der Ecke Hemm- und Admiralstrasse 1906 baute. Es war ein Geschäft mit dem „amerikanischen Traum“. Missler wurde damit ein reicher Mann und honoriger Bremer. Betrachtet aus heutiger Perspektive, war es ein anrüchiges Geschäft.

Es war ein langer Weg bis zum Bau dieser Hallen, diese Schlichtbauten versteckten sich unauffällig hinter dem Imponiergebäude an der Straßenfront. Hier warteten die Auswanderer auf den Tag, wo ihr Schiff der Hoffnung an der Bremerhavener Columbuskaje in See stechen sollte. Das  Haus symbolisierte einen Handelszweig, der im 19. Jahrhundert entscheidend zum Aufstieg vom nur europäischen zum transatlantischen Hafen beitrug. Heute befindet sich hier ein Seniorenheim.

Auf dem Höhepunkt der Auswanderung vor dem Ersten Weltkrieg passierten monatlich an die 20 000 Auswanderer die Stadt, trugen bei zum Wachstum des bremischen Handels und dem Wohlstand der Reeder, Gastwirte, Auswandereragenten und zahlreicher Geschäfte, welche noch die letzten Dinge für die große Fahrt bereit hielten. Doch in den ersten Jahrzehnten der großen Emigrationswelle zu Beginn des 19. Jahrhundert – bis weit in die Mitte dieses Jahrhundert reiste man noch mit Segelschiffen, bis zum Eisenbahnanschluss 1847 kamen die Auswanderer mit dem Fuhrmann und nicht mit Sonderzügen in die Stadt –  waren die Zahlen noch vergleichsweise bescheiden. Trotzdem legten sie die Grundlage für einen überaus ertragreichen Wirtschaftszweig der Stadt.

Die Anfänge der Bremer Erfolgsgeschichte waren verknüpft mit dramatischen Missernten und einer damit einhergehenden Hungernot in den süddeutschen Ländern nach 1816. Ursache war der dramatische Ausbruch eines Vulkans in Indonesien, in der Folge legte sich ein Schleier auch über diese deutschen Landstriche, bis nach Nordamerika reichte die riesige Vulkanwolke. Erst 100 Jahre später erkannten Klimaforscher den Zusammenhang, die Menschen sprachen vom „Jahr ohne Sonne“ und in der Folge machte die Redensart „1800 und erfroren“ die Runde.Einzug der ersten Erntewagen nach dem Ende der großen Hungersnot,  Ravensburg 1817, (Stadtarchiv Ravensburg) die stilisierte Darstellung v. G.J. Edinger verweist auf die extreme Not der Zeit

Doch diese Erntekatastrophe war nicht entscheidend für die Anfänge der Auswanderung, wichtiger waren strukturelle Veränderungen in Stadt und Land.  Allmählich entwickelte sich eine Bewegung aus den festgefügten Verhältnissen hinaus, die kleinen Bauern wie die Handwerker sahen eine Perspektive in dem offenen Land jenseits des großen Ozeans. Aussichtslosigkeit drückte sie aus dem Land, die Hoffnung auf ein besseres Leben in den Vereingten Staaten zog sie an. Schon das zeitgenössische Konservationslexikon von 1820 erkannte dies als zwei Kernmotive aller Migrationsbewegungen. Briefe mit den Beschreibungen des Lebens in USA lockten neue Auswanderer, ihr Glück zu versuchen. 

Im Winter stauten sich die ersten Migranten in den holländischen Häfen. Wer dort aber keine Passage bekam, fiel den Armenanstalten anheim. Die Bremer erkannten die Gunst der Stunde und warben für ihren Hafen. Als Hamburg die Auswanderungswilligen noch lange Zeit aus der Stadt verbannte, handelte Bremen flexibler.

Das hatte zwei Gründe. Hamburg fürchtete, die Auswanderer könnten ihrer Armenkasse zur Last fallen. Zudem war Hamburg weniger auf das Auswandergeschäft angewiesen, mit der Elbe erschloss sich die Stadt vielfältige Frachten aus und tief nach Sachsen hinein. Die Weser führte im Vergleich ins Niemandsland, vom Oberlauf der Weser kamen keine vergleichbaren Güter. Lief in den 1820er Jahren ein Schiff den Bremer Hafen an, lag hier nur für jedes dritte Schiff neue Fracht bereit. Es musste dann mit Ballast abfahren, die Migration versprach einen neuen Exportartikel.

Schnell stellte sich heraus, mit dem Transport von Auswanderern ließen sich hier gute Geschäfte machen. So verfügten die Schiffseigner über eine Fracht nach Amerika, welche den Import von Tabak und anderen Handelsgütern für Bremer Reeder profitabel machte. In der Folge investierten die Reeder in neue und größere Schiffe, skeptische Zeitgenossen sprachen von der Bremer „Schiffs-Bau-Wuth“. Ihnen erschien der „Handelsartikel“ Auswanderer als zu abhängig von den Schwankungen der Konjunktur. Die Bremer Reeder und Kaufleute sahen das anders: Konnten die Schiffe 1830 zusammen 10 000 Auswanderer unterbringen, hatte sich diese Zahl zehn Jahre später bereits verdoppelt. „Die Auswanderung trieb die Segel“, stellte ein Bericht im Jahr 1844 fest. Legten hier anfangs noch amerikanische Segler an, um neue Bürger für die Vereinigten Staaten zu holen, gelang es den Bremer Kaufleuten in wenigen Jahren, diesen Handel fast ausschließlich in eigener Regie zu betreiben.

Stilisierte Darstellung der Bedeutung von Auswanderung, Trennung von Angehörigen und Dorfgesellschaft, Carl Wilhelm Hübner, Die Auswanderer, 1846

Es war nicht nur die Konjunktur, die immer wieder neue Auswanderer nach Bremen lenkte. Einerseits wirkte allein das Wort „Amerika“ wie eine magische Kraft. Aber nicht nur die Zeitungen mit ihren Berichten über einen unerschlossenen Kontinent –  die Vertreibung der Indianer spielte angesichts der Hoffnungen auf ein neues Glück keine Rolle – sorgten dafür, dass diese Magie erhalten blieb. Damit der Strom der Auswanderungswilligen nicht abriss, darum kümmerte sich ein neuer Berufsstand: die „Auswandereragenten“ mit ihren Büros.


Felix Schlesinger, 1833 -1910, Im Auswandererbüro

Nach den turbulenten Anfangsjahren reagierten die kleindeutschen Staaten. Die Agenturen mussten sich um eine staatliche Konzession bewerben. Die schrieb u.a. vor, dass keine jungen Männer, die ihre Militärzeit noch nicht abgeleistet hatten, angeworben werden durften. Da die Agenten jedoch nach der Zahl der Angeworbenen bezahlt wurden, nahmen sie diese Vorschriften zumeist nicht sehr genau. Auch manch schwarzes Schaf, das auf der Flucht vor Militär oder Polizei war, bekam eine Passage vermittelt. Auch die Hansestadt Bremen war bei einem Verdacht der Übertretung der Vorschriften zumeist nicht kleinlich, es ging schließlich um eines der Hauptgeschäfte der Handelsstadt.

Als 1846 ein neues Auswanderergesetz für Bremen auf der Tagesordnung stand, trug der Senat zwei Seelen in seiner Brust. Einerseits galt es, etwas gegen die sich häufenden Berichte von den elenden Verhältnissen auf den Auswandererschiffen zu  unternehmen. Es war schwer vorstellbar, dass dieses von den tonangebenden Kaufleuten beherrschte Gremium ein solch wichtiges Geschäft beeinträchtigte. Als die Diskussion um eine Obergrenze für Passagiere im Schiff ging, bemerkte eines der Handelshäuser zur Wirksamkeit der bisherigen Regelungen süffisant: „Nichts ist leichter, als unsere Inspection zu hintergehen, vorausgesetzt, daß man gewissenslos ist, es zu wollen“. Eine andere Firma gab zu Protokoll: Nichts sei „verkehrter als das Bestreben, Auswandererschiffe zu Musteranstalten zu machen. Das sei bei dem Charakter und der Lebensgewohnheiten der Auswanderer ganz unmöglich.“

Immer wieder kritisierten die Zeitungen die Unterbringung der Auswanderer auf dem Zwischendeck der Schiffe. Kein gutes Haar ließ die Illustrierte „Gartenlaube“ in einer mehrseitigen Reportage 1854 an dieser Verfrachtung der Reisenden: „Diese rohen Bretterverschläge, welche fast auf’s Haar ungeheuren Kommoden gleichen, aus denen man die Schubfächer herausgezogen hat, sind Alles, was dem Zwischendeckspassagiere geboten ist.“

Im Zwischendeck eines Auswanderschiffs [Bildarchiv Labor Migration Project, Bremen]

Solche Reportagen drohten das Geschäft zu beeinträchtigen und Auswanderer vom Bremer Hafen fern zu halten. Inzwischen hatte Hamburg nämlich seine anfängliche Reserve gegen die Migranten aufgegeben und entdeckt, dass die Auswanderung ein lukratives Geschäft war. Damit konkurrierten nun zwei deutsche Häfen um die gleiche Fracht.

Um seinen Vorsprung zu halten, musste sich Bremen um den Ruf des besseren Auswanderungshafen bemühen. Ein Problem auf der Reise war die Beutelschneiderei der Gastwirte mit den in der fremden Stadt hilflosen Auswanderer. Die „Gartenlaube“ beschrieb das in drastischen Worten: „Kommt ein Trupp solcher unerfahrenen Emigranten, an seiner wunderlichen Tracht, seinen halb blöden, halb übermüthigen Geberden und seinem in der Regel ungeheuerlichen Gepäck leicht erkannt, im Hamburger Bahnhofe an, so stürzt sich sofort, einem Rudel hungriger Wölfe vergleichbar, ein Haufe von Mäklern und Gastwirthen auf sie, faßt sie am Arme, dringt ihnen dies oder jenes Haus mit lockendem Namen als Absteigequartier auf, schafft [sie] als gute Beute in eine Droschke, setzt sich auf den Bock und bringt die mit dem ersten Tritte auf den Boden der Handelsstadt zur Waare Gewordenen […] in ihren Emigrantenspeicher in Sicherheit.“

Ähnliches hatte sich auch Bremen abgespielt. Bis zum Erlass des Auswandergesetzes von 1849 lieferten sich die Wirte eine erbitterte Konkurrenz um jedes Bett für einen Auswanderer. Aus der Zeit vor dem Bremer Anschluss an die Eisenbahn sind Berichte überliefert, dass schon die Fuhrleute auf dem Weg in die Stadt dieser aggressiven Werbung ausgesetzt waren. Im Extremfall konnte es passieren, dass einem Fuhrmann mit „falschem“ Ziel das Pferd aus dem Wagen ausgespannt wurde. Auf der Straße der Auswanderer, dem Buntentorsteinweg mit zahlreichen Auswandererherbergen, kämpften die „Litzer“ für die Wirte um jeden Gast. Dann konnte es auch zu Prügeleien kommen, wenn es darum ging, einen Auswanderer in die Herberge ihres Chefs zu lotsen. Die Kosten für die „Litzer“ schugen die Inhaber dann auf den Bettenpreis auf, derartige Praktiken und künstlich  in die Höhe getriebene Übernachtungskosten schädigten den Ruf des Auswandererhafens Bremen.

Das Auswanderungsgesetz versuchte die gröbsten Auswüchse des Geschäfts mit den Auswanderern zu verhindern. Zur Annahme der Passagiere waren von da an nur noch Bremer mit „Bürgerrecht“ und nach Hinterlegung der enormen Summe von 5000 Talern zugelassen. Eine Regel, die den etablierten Reedern keine Schwierigkeiten bereitete, unerwünschte „Newcomer“ aber ausschloss. Den Gastwirten und ihren Leuten wurde dies Geschäft explizit untersagt.

1852 schuf die Handelskammer zusammen mit den Reedern das „Nachweisbüro für Auswanderer“. Dort lag eine Liste all der Herbergen aus, die sich vertraglich zur Einhaltung von Mindeststandard in ihren Häusern verpflichtet hatten.

Darauf lobte sich die Handelskammer: „Früher galt der Satz: Der Auswanderer ist eine Ware, welche dem Rheder möglichsten Gewinn abwerfen soll. In Bremen begann man ihn als Menschen und zwar als einen besonders hilfsbedürftigen Menschen zu betrachten.“ Realistisch war die Menschenfreundlichkeit nicht.

Als nur wenige Jahre zuvor der amerikanische Kongreß ein Gesetz über den pro Passagier notwendigen Platz beschloss, drohte das die Auswandererzahl pro Schiff zu halbieren. In den Bremer Schiffahrtskreisen brach „Panik“ aus, so Rolf Engelsing in seiner Untersuchung zur Auswanderung über Bremen. Auf Bitten Bremens intervenierte der inzwischen in die USA zurückgekehrte Bremen Ex-Konsul beim Präsidenten höchstpersönlich und konnte erreichen, dass der Verlust mit ca 15% weniger Passagieren moderat ausfiel. Resumierend kommt Engelsing zu dem Schluss: Letztlich setzen sich im Senat die Kaufmannsinteressen durch. „Die Gesetzgebung hielt sich in einem Rahmen, der „die Kalkulation nicht berührte.“

Aber die Regulierungen sorgten dafür, dass die Auswanderung über Bremen allgemein als empfehlenswert galt. Die „Gartenlaube“, eine der ersten illustrierten Zeitschriften und damit schnell ein Massenblatt, fand warme Worte für die Hansestadt: „Als der sichrere Weg für den Unerfahrenen […] kann unbedenklich der über Bremen bezeichnet werden.“ Das war Wasser auf die Mühlen des Bremer Migrationsgeschäft. Mit der Gründung des Norddeutschen Lloyd 1854 und dem Übergang zur Dampfschiffahrt entwickelte das Auswanderungsgeschäft in der zweiten Hälfte des Jahrhundert eine neue Dimensionen; und als erst die osteuropäische Migration einsetzte, erlebte dieser Handelszweig um 1900 seine wahre Boomzeit.

Eine Fortsetzung zur Migration nach Gründung des Norddeutschen Lloyd folgt

Text und Recherche: Achim Saur, Dank für die kritische Durchsicht an Diethelm Knauf

Abbildungen in der Reihenfolge: Geschichtskontor; die Repros der Gemälde in wikidepia, in den Artikeln „Jahr ohne Sommer“ und „Auswanderung“;  Labor Migration Project, Bremen und Staatsarchiv Bremen

Aufbruch in die Fremde, Hrsg. D. Hoerder, D. Knauf, Bremen 1992 ist noch immer unverzichtbar für die Migrationsgeschichte nicht nur aus Bremer Perspektive. 

 

 

 

 

 

 

Zum Weiterlesen: Für die Bedeutung der Migranten für die Bremer Ökonomie siehe Rolf Engelsing, Bremen als Auswanderhafen 1683-1880, in: Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien Hansestadt Bremen, H. 29, 1961, ein weites Spektrum thematisieren Horst Rössler, Hollandgänger, Sträflinge und Migranten, Bremen und Bremerhaven als Wanderungsraum, Bremen 2000; Fremde in Bremen, Auswanderer, Zuwanderer, Zwangsarbeiter, hrsgg. von D. Knauf und H. Schröder, Bremen 1993

Die genannten Titel sind in der Bibliothek des Geschichtskontors einsehbar.

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