Das „Heimatmuseum“ auf Vortragsreise

Die alljährliche „Oral History Conference“ in England ist ein Mekka für alle, die mit Zeitzeugen arbeiten. Wie schon 2014 wurde das Geschichtskontor 2016 zum Vortrag eingeladen, diesmal war unser Thema: „Oral History im Kino“. Im Mittelpunkt stand das Projekt „Feindberührung“, eine Kooperation mit Diethelm Knauf aus dem Vorjahr. Das Thema des Konferenz lautete: „Jenseits des Textes – Im Digitalen Zeitalter. Oral History, Bilder und das geschriebene Wort.“

 Und weil das „Digitale Heimatmuseum“ schon seit Jahren mit der Kombination von Tönen, Bildern und Texten arbeitet, bekamen wir eine Einladung zum Kongress. Hier das Programm. Unser Thema waren die Erfahrungen mit unserer Veranstaltung „Feindberührung“, da haben wir Filme, szenische Lesung, Bilder und Interviewpassagen auf Bühne und Leinwand des „City 46“ miteinander verwoben. Achim Saur und Christine Spiess referierten zum Thema, was passiert, wenn eine Live-Veranstaltung auf die Website wandert. Hier ein Ausschnitt aus ihrem Vortrag:

[…] Ein oder zwei Mal im Jahr unterbrechen wir unsere Routine mit einer besonderen Veranstaltung. Wir suchen einen authentischen Ort, gehen auch in die Rotlichtbar, wenn es um die Matrosen und die Frauen geht. Im letzten Jahr gingen wir aber ins Kino, das City 46, und entdeckten, wie geeignet der Ort für unsere Arbeit ist. Das Kino ist zwar – anders als die Seemannskneipe – kein „authentischer“ Ort für unsere Geschichte. Denn wir wollen da ja nichts über das Kinogehen erzählen.

Wir gehen ins Kino, dort interessiert uns das Changieren zwischen Zerstreuung und Konzentration, die produktive Vermischung von oft Getrenntem: von Gefühl und Erkenntnis, Überwältigung und Reflexion, Bild, Musik, Sprache. Diese Mischung haben wir im Sinn. Es geht uns um Erkenntnis durch die Collage von Bruchstücken. Eine Methode, die den Text einschließt und doch in alle Richtungen über ihn hinausgeht. Wir möchten jetzt gerne eine solche Veranstaltung exemplarisch vorstellen, damit wir dann konkret darüber diskutieren können.

Letztes Jahr – 70 Jahre Kriegsende. Meist markiert als „Stunde null“, als Auftakt zur europäischen Versöhnung. Wir gehen von einer anderen These aus: April 45, das war: Angst, Verunsicherung, Verleugnung, Vorurteil, Hass, vielleicht Neugier. Feindberührung. Da wollten wir so nah wie möglich ran. Unsere Collageteile für den Abend im Kino: Dokumentarfilm, Lesung, Bild, Diskussion. Welchen Erkenntniswert haben diese unterschiedlichen Medien, für sich und in der Kombination?

Wir nutzen die große Leinwand und die Bühne davor und beginnen mit einem kurzen Filmausschnitt vom Juni1945, gefilmt von US-amerikanischen Soldaten. Der Film ist ein historisches Dokument, das uns das Ausmaß der Zerstörung buchstäblich vor Augen führt. Er ist damit jeder Erzählung auch eines Zeitzeugen überlegen. Und er braucht nur 30 Sekunden. Danach zeigen wir eine Karte.

Die Karte zeigt den Weg der schottischen Divisionen durch die Niederlande nach Bremen. Aber sie erzählt nicht, was auf diesem Weg passierte. Wir erklären also die Karte, erzählen von den erbitterten Kämpfen zwischen den schottischen und deutschen Divisionen im Reichswald zwischen Gennep in den Niederlanden und Goch und Kleve in Deutschland. Nächstes Puzzleteil. Die Bühne wird dunkel, bis auf eine kleine Leselampe.

Ein Schauspieler liest aus den Erinnerungen eines britischen Soldaten von der 51st Highland Division. Peter White beschreibt seine erste Begegnung „with the Jerries“, mit den deutschen Soldaten, und mit der deutschen Bevölkerung. Die Quelle für diese Sequenz ist eine in den 60er Jahren verfasste Lebenserinnerung. Es handelt sich hier um eine außergewöhnliche, subjektive Darstellung. Der Autor hat sie bewusst gestaltet, der Historiker wählt daraus aus. Solche Entscheidungen fällen wir vor dem Hintergrund unserer historischen Kenntnisse.

Schnitt, Medienwechsel. Statt leiser Konzentration jetzt großes Kino. Interviews mit schottischen Veteranen: Wie war das mit der Feindberührung? Was fühlten sie damals für die Deutschen? Hass? Furcht? Abscheu? Gab es einen Punkt, wo die Wahrnehmung in die eine oder andere Richtung kippte?

Drei kurze, prägnante Filme, im Original mit deutschen Untertiteln. Wir zeigen jetzt den Ausschnitt, in dem John MacKenzie erzählt. Für ihn waren die Deutschen – Soldaten, so wie er, nur eben auf der gegnerischen Seite. „They did the same job as we were doing“. Bis er die SS erlebte, die Gefangene aufhängte. Und als er Bilder von der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen sah, war das für ihn ein Schock, der ihn dezidiert zum „Anti-Nazi“ machte.

„Alles kaputt“ und „Ich nix Nazi“. Vermutlich die Quintessenz aus zahlreichen Gesprächen seit 70 Jahren – und dadurch prägnant, eben: auf den Punkt gebracht. Die Wahrheit steckt für ihn gerade im Verdichten. MacKenzie spießt nicht nur das Unschuldsbewusstsein der meisten Deutschen auf, sondern auch, dass sie sich in erster Linie als Opfer sahen.
Damit kommen wir zum nächsten Puzzlestein: Wo waren dann die überzeugten Nazis und die kleinen Mitläufer, die bis zum Ende an den Sieg glaubten? Wir haben sie im Staatsarchiv gefunden: in Tagebüchern, Briefen, Erinnerungen.

Und wir haben sie zu einer Collage verarbeitet, gelesen auf der Bühne, ein Ping-Pong-Spiel, schnell, widersprüchlich, erhellend. Zwischen den Präsentationen gab es immer wieder kurze Diskussionen zwischen Achim und dem Historikern Diethelm Knauf, um die Splitter des Kaleidoskops zu reflektieren.

Hier einen herzlichen Dank an Diethelm Knauf, mit dem wir eng kooperiert haben und der alle britischen Quellen recherchiert hat. Aber ohne Padmini Broomfield vom OralHistorySociety-Team hätte er sie bei seiner Reise nach Schottland nicht gefunden. Auch dafür Dank.

Der Abend im Kino war erkenntnisreich: Das Zusammenspiel der Puzzleteile bewegte Herz und Geist. Aber es sind „flüchtige“ Eindrücke. Zurückblättern wie im Buch ist unmöglich. Die Bilder vom Flug über die Trümmerwüste vergisst man nicht, doch ob die einzelnen Pasagen aus der Lesung ähnlich prägnant waren, wissen wir nicht. Die Nuancen in den mündlichen Aussagen sind kaum zu prüfen, in der Lesung, in den Erläuterungen, in den Erinnerung.

Wenn wir das Thema unserer Veranstaltung auf der Website veröffentlichen, wird alles überprüfbar. Sie sehen, fast alle Elemente der Veranstaltungen finden sich dort wieder. Hier spielt die Schrift allerdings eine ganz andere Rolle. Auch die Wirkung von Lesung oder Film ist hier weniger dominant. Der Erzähler im Video-Clip auf der Leinwand und mit dem Sound-System eines Kinos wirkt überdimensional, auf dem Desktop zuhause oder auf dem Smartphone erscheinen nur Miniaturen. Die Suggestionskraft des Kinos verblasst auf dem Rechner.

An Kraft gewinnt dagegen der Text. Wo die mündliche Rede eines Moderators vorbeifliegt, ist der Text jetzt auf jede Nuance zu prüfen, das Auge kann Zeile um Zeile zurückspringen und die Argumentation nach Logik und Plausibilität abwägen. Auch die Produzenten des Textes werden zu höherer Präzision gezwungen. Zum Beispiel das Resümee des Textes im Heimatmuseum: Schauen Sie auf diesen Satz:

An diesem Satz haben sich auch unsere Übersetzer die Zähne ausgebissen. So lässt sich im Kino nur schwer formulieren, auch wenn wir in diese Richtung denken. Aber die Website bietet noch weitere Vorzüge: Zusätzlich zur Videodokumentation der Lesung können wir den Text einer Lesung als pdf verlinken, die Sprecher in unserer Montage aus den Tagebüchern identifizieren: Stammen sie aus bürgerlichen Berufen oder aus der Arbeiterklasse? Oder: Wir können zusätzliche Links und Dokumente einpflegen.

Was dagegen auf der Website fehlt, ist die Diskussion der Veranstalter über die Methode, die im Kino stattfand. Können wir Geschichte allein mit Hilfe sehr persönlicher Quellen dokumentieren und damit allgemeine Aussagen treffen? Welchen Wahrheitsgehalt können unsere Montagen beanspruchen? Eine solche Diskussion haben wir im Kino angestoßen, auf der Website aber muss sie als generelle Frage thematisiert werden, nicht in einem einzelnen Beitrag.

Unsere Antwort auf diese Frage lautet: Wir arbeiten in der historischen Bildung oft wie Journalisten, auch sie verzichten auf Methodendebatte und Fußnote. Ob man ihnen bzw. uns glaubt oder nicht, hängt ab vom Vertrauen in die Seriosität einer Zeitung – oder unseres Hauses. Die müssen wir uns erarbeiten. Und am Ende gilt der Satz des berühmten deutschen Regisseurs Eberhard Fechner, er schuf Dokumentationen allein aus der Montage von Erinnerungen von Zeitzeugen: „Die Wiedergabe individueller Schicksale ist zwangsläufig eine subjektive Form zeitgeschichtlicher Darstellung“. Wie diese subjektive Form zu werten ist? Das entscheiden unsere Besucher und Leser, und es hängt ab von unserer Genauigkeit.

Achim Saur, Christine Spiess

Unseren Vortrag zum „Digitalen Heimatmuseum“ auf dem Kongress 2014 finden Sie hier.

Copyright! Bei Interesse an den Bildern wenden sie sich bitte an info@digitales-heimatmuseum.de