Migrationen – Vom Elend und dem Reiz der Fremde

Zusammen mit Dirk Hoerder, inzwischen international renommierter Forscher für globale Migrationen an der State Arizona University, hat Diethelm Knauf 1992 die Ergebnisse eines Bremer Forschungsprojekts zur  Auswanderung veröffentlicht. Für das Digitale Heimatmuseum hat er für uns einen Text zu den zwei entscheidenden Motiven von Migration verfasst, den sogenannten „Push- und Pull-Faktoren“:

Migration prägte und prägt die Existenzbedingungen vieler Menschen, auch in Europa. Sesshaftigkeit war und ist ein Privileg der Reichen und der Alten, nur wer die finanziellen Mittel hatte oder sein Arbeitsleben schon hinter sich, brauchte nicht auf Wanderschaft zu gehen, um seine Existenz zu sichern.

Um die Entstehung von Wanderungsprozessen zu erklären, wird häufig das Modell der sog. Push- und Pull-Faktoren herangezogen. Push-Faktoren sind die Bedingungen in den Herkunftsländern von Migranten, die diese bewegen, ihre Heimat zu verlassen. Dazu gehören Hunger und Wirtschaftskrisen, politische und religiöse Unfreiheit, Kriege, ein Erbrecht, das nicht allen Kindern einer Familie Existenzchancen einräumt, ein allgemein wenig hoffnungsvoller Blick in die Zukunft.

Pull-Faktoren sind die tatsächlichen oder vorgestellten Bedingungen in den Zielländern von Migrationsbewegungen. Der bekannteste Pull-Faktor ist hier wohl der „amerikanische Traum“ von den unbegrenzten Möglichkeiten, nach dem jeder in den USA es zu etwas bringen könnte: ein Leben ohne materielle Not und in persönlicher Freiheit.

Geradezu prophetisch schrieb die Brockhaus Real-Enzyklopädie bereits 1820 unter dem Stichwort „Auswanderung“: ‚Nicht Übervölkerung allein, nicht der Trieb, ein ungewisses Glück unter fremden Sternen zu suchen, sondern mehr als dies, die Hoffnungslosigkeit, dass es je besser werde, Furcht, daß noch Schlimmeres bevorstehe, und gänzlicher Mangel an Vertrauen zu der Fürsorge der Regierungen, diese Ursachen haben […] ganze Familien in die öde Welt hinausgetrieben. Ein Gefühl der Verzweiflung hat die Völker ergriffen, dass es keine Freiheit mehr für den Armen gebe, der unter dem Druck der Abgaben und unter der Last von Arbeiten, bei immer höher steigenden Preisen […] der finsteren Vorstellung sich überlässt, daß die arbeitende Classe, der zahlreichste Theil des Volks, nicht für sich arbeite, sondern nur für Hof, Heer und Staat. Daher die Sehnsucht in ein fernes Land zu ziehn, wo die Einbildungskraft eine glücklichere Zukunft erblickt.‘

Hoffnungslosigkeit, dass es einmal besser werde,  Verzweiflung, dass es noch schlimmer kommen könnte, Misstrauen gegenüber den Regierungen, materielle Not und Mangel an Freiheit veranlassen die Menschen, sich einen Sehnsuchtsort in einem fernen Land zu konstruieren, wo sie „mit Glücke bleiben können“, wie es in der Bremer Legende von der Gluckhenne heißt.

Text: Diethelm Knauf

Mehr in der Publikation: Aufbruch in die Fremde. Migration gestern und heute, Bremen 2009

Hier geht es zu Geschichten der Auswanderung über Bremen.

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