Am Torfhafen – Anzeige gegen den Haupttäter

Der Findorffer Torfhafen wurde im Jahre 1873 entlang der Neukirchstraße angelegt und reichte ursprünglich bis an die Hemmstraße heran. Ende des 19. Jahrhunderts legten hier jährlich 30.000 Torfkähne an, die mühsam abgebauten Torf – das bevorzugte Brennmaterial – von den Dorfgemeinden des Teufelsmoors in die Hansestadt brachten. Im Jahr 1943 zur Zeit der Deporation standen hier schätzungsweise zwei Dutzend Wohn- und Betriebswagen von Schaustellerfamilien wie Familie Trollmann oder Familie Dickel.

Der Torfhafen in Bremen-Findorff kurz nach Kriegsende. Nachdem der Moorexpress Jan Reiners die kleinen Kähne ersetzte, wurde der Hafen bis auf den bestehenden Rest nach und nach zugeschüttet. (Quelle: Geschichtskontor im Kulturhaus Walle Brodelpott)

In Bremen ist die Familie Dickel seit 1919 an unterschiedlichen Wohnorten nachweisbar: in der Hemmstraße, in der Waller Heerstr., in der Stoteler Str. 3 und ab dem 9. Mai 1941 bis zu ihrer Deportation im März 1943  in der Eickedorfer Straße. Auch an der letzten Adresse wohnte sie in einem oder mehreren Wohnwagen.

 

Grabstelle der Familie Dickel auf dem Friedhof Buntentor (Quelle: John Gerardu, Spurensuche Bremen))

Das Familien-Grab der Dickels findet sich heute auf dem Friedhof Buntentor. Nicht dort beerdigt ist der Sohn Julius, der die Schule in der Nordstraße und später die Schule am Neustadtswall besuchte. Seine Biografie ist für uns besonders interessant, da er 1961 den hauptverantwortlichen Kriminalbeamten Wilhelm Mündtrath wegen Beihilfe zum Mord anzeigte.

Vieles von dem, was wir heute über die Verfolgung der Sinti und Roma wissen, findet sich in den Akten dieses Prozesses.

 

Seine Verhaftung schilderte Julius Dickel in dem Verfahren so (gelesen von Rolf Becker):

Ende 2019 gelang es uns, in den Niederlanden eine Tochter Julius Dickels ausfindig zu machen. Linda Dickel hat uns inzwischen besucht – mit ihr zusammen möchten wir auf dem Friedhof Buntentor künftig auch ihren Vater mit einer Gedenktafel ehren.

Morgens um drei Uhr

Am Torfkanal wohnte ab 1942 auch die Familie des Schaustellers Rudolf Stein. Sie besaß ein Karussell – vermutlich eine Schiffschaukel mit 5 Kähnen – eine Schießbude und ein Puppentheater. Des Weiteren besaß mindestens  einen 6 m-Wohnwagen mit Veranda sowie einen Packwagen. Zum Marionettentheater gehörte eine große Orgel, die allein ein Gewicht von 3 Zentnern hatte.

Wie es in der Zeit zuging, wenn ein Puppentheater unterwegs war, schildert der Sinto Robert Winter (gelesen von Rolf Becker, Musik Dardo Balke Ensemble):

Zum Zeitpunkt der Deportation war Rudolf Stein achtzig Jahre alt – mit ihm wurden seine Frau, acht Kinder und elf Enkelkinder verhaftet.

Sein Sohn Albert Stein erinnert sich: „Am 9.3.43 morgens 3 Uhr wurden wir auf Anweisung von Mündtrath von Polizeibeamten der Wache 10 in unseren Wohnwagen im Findorffviertel festgenommen. Die Beamten sagten uns, wir sollten uns fertig machen und abrücken. Sie wussten nicht, wo wir hinkommen sollten. Wir durften nur eine Wolldecke und ein Essbesteck mitnehmen.

Wir wurden dann zum Schlachthof transportiert. Hier war Mündtrath mit noch einigen Kriminalbeamten und Schutzleuten bereits anwesend. Wir mussten familienweise antreten und sämtliche Wertgegenstände, Uhren, Ringe etc. ebenso unsere sämtlichen Personalpapiere und Gelder abgeben. Dann wurden von uns Fingerabdrücke gemacht. Wir erfuhren auf Befragen von Mündtrath, dass wir in Polen angesiedelt werden sollten. …“

Späte Anerkennung

Die Stadtteilrundfahrt macht Station am Torhafen; Marcus Reichert vom Bremer Sinti-Verein erläutert die Bedeutung dieses Ortes

Albert Stein war der einzige der 23 Mitglieder umfassenden Familie, der aus Auschwitz zurückgekehrt ist. Von Auschwitz-Birkenau wurde er zunächst in das KZ Ravensbrück und dann in das KZ Bergen-Belsen transportiert. Nach seiner Rückkehr nach Bremen wohnte er im August 1945 zunächst im Schwarzen Weg. Ab 1950 musste er mit seinem Wohnwagen ins „Landfahrerlager Riespott“ umsiedeln.

Ab 1952 wohnte er in Hamburg-Wilhelmsburg,  wo er 1960 starb. Seine Wiedergutmachungsakten sind ein beschämendes Zeugnis dafür, wie man in der Bundesrepublik bis in die 1980er Jahre versuchte, die Einweisung in Konzentrationslager mit den Verhaltensweisen der Sinti und Roma zu rechtfertigen. Dort ist unter anderem zu lesen:

 

„Soweit hier in Erfahrung gebracht wurde, sind Sie der Arbeit bei der Firma Sielmann des Öfteren ferngeblieben, ohne sich zu entschuldigen. Es wird angenommen, dass Ihr sowie das Verhalten Ihres Schwagers seiner Zeit für die Einweisung ins KZ ausschlaggeben war.“

Erst 1982 erkannte die Bundesrepublik durch Kanzler Helmut Schmidt offiziell an, dass die Sinti und Roma in der NS-Zeit aus „rassischen“ Gründen verfolgt wurden.

Eine historische Ohrfeige

Albert Stein

Albert Stein war 1947 auch am Entnazifizierungsverfahren gegen Wilhelm Mündtrath beteiligt. Dabei sagte er unter anderem: „Mündtrath ist in meinen Augen kein anständiger Charakter, er ist ein Verbrecher. Er ist mit schuld daran, dass meine ganzen Familienangehörigen ermordet wurden.“ Die Akten dokumentieren einen bemerkenswerten Vorfall vom 10. Januar 1947, als es zu einer Gegenüberstellung von Albert Stein mit Mündtrath kam.

„Bei Rede und Gegenrede der beteiligten Personen sprang Albert Stein plötzlich auf und versetzte dem Betroffenen auf die linke Wange eine Ohrfeige.“

Wilhelm Mündtrath (Quelle: Staatsarchiv Bremen)

 

Es blieb die einzige Bestrafung für einen der Haupttäter an der Ermordung hunderter Sinti und Roma. Mündtrath wurde von der amerikanischen Militärregierung zwar aus dem Polizeidienst entlassen, im erwähnten Verfahren aber zunächst als „Mitläufer“ eingestuft und später vollständig freigesprochen.

 

 

Er kehrte in den Polizeidienst zurück, wurde befördert und erhielt 1958 beim Abschied einen Danksagung von Bürgermeister Wilhelm Kaisen für „die der Freien Hansestadt Bremen geleisteten treuen Dienste.“ Die 1961 durch die Anzeige von Julius Dickel eingeleiteten Ermittlungen wegen Beihilfe zum Mord wurden eingestellt.

Vertiefung:

Hans Hesse: Der zweite Himmler

Spurensuche Bremen: Das Schicksal der von den Nazis deportierten Sinti-Familie Petrus Dickel

Zu den anderen Stationen des Rundgangs:

Start: Vom Waller Friedhof zum alten Schlachthof – auf den Spuren der Sinti und Roma im Bremer Westen

  1. Waller Friedhof – ein Grab als Denkmal
  2. Mitten in Walle – Von Nachbarn denunziert, von Polizisten erfasst
  3. Leben auf der Parzelle – Ein Schmuckstück und eine Liste
  4. Blütenstraße – Wohnort des Haupttäters
  5. Gothaer Straße – Als Schulkind deportiert
  6. Am Torfhafen – Anzeige gegen den Haupttäter
  7. Findorffstraße 99 – Mit den Betten zum Schlachthof gebracht
  8. Schlachthof – Drei Tage im März
  9. Familie-Schwarz-Platz – ein Stadtteil erinnert sich  
  10. Die Spur der Steine – Für einen würdigen Gedenkort
  11. Musikalischer Ausklang mit dem Dardo Balke-Trio

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