Leben auf der Parzelle – Ein Schmuckstück und eine Liste

In der Waller Feldmark lebten während der NS-Zeit mindestens vier Sinti-Familien – unter anderem auf einer Parzelle in der Nähe des Waller Damm, auf dem eine Scheune und ein kleines Steingebäude in der Art eines Behelfsheimes standen.

Waller Damm, Ecke Kanarienweg

Eine Nachbarin erinnert sich

In der Parzelle am Waller Damm hatte die kleine Maria Peter Kontakt zu der Nachbarin Lore Buchholz, die als Zeitzeugin viele ihrer Erinnerungen an die Geschichte Walles zur Verfügung gestellt hat. Auch an ihre Nachbarin Maria Peter und ihre Mutter kann sie sich erinnern. Vor allem an ein Gespräch kurz vor der Deportation.

 

„Frau Peter hat meine Mutter gefragt, ob sie ihren Schmuck nehmen  und so so verwahren würde, dass sie, falls sie zurückkommen würden, ihn dann hätten.“

Was dann wahrscheinlich mit dem Schmuck von Frau Peter geschah, schildert ein vom Schauspieler Rolf Becker gelesener Bericht einer Zeitzeugin. Dieser Bericht stammt wie die anderen von Becker im Rahmen dieses Online-Rundganges gelesenen Berichte entweder aus den sogenannten „Wiedergutmachungsakten“ oder den Akten im Entnazifizierungs- sowie späteren Ermittlungsverfahren gegen Wilhelm Mündtrath, die im Bremer Staatsarchiv verwahrt  werden. Die Aussagen stammen aus einer Zeit, in der die Sinti und Roma noch nicht das Selbstbewusstsein hatten, um sich gegen die Fremdbezeichnung als „Z…“ zu wehren.

Jakob Peters Liste

Der Onkel von Maria Peter, der Schirmmacher Jakob Peter, entging der Deportation nur, weil seine Frau Albertine keine Sinteza war, sondern im Nazisprachgebrauch eine  „Arierin“. Das schützte ihn nicht davor, 1944 sterilisiert zu werden. Im Entnazifizierungsverfahren von Wilhelm Mündtrath, der das „Zigeunerdezernat“ leitete, zitiert Jakob Peter diesen nach 1945 mit den Worten: „Wer sich nicht freiwillig sterilisieren lässt, kommt in ein Lager.“

Was ein Lager war, hatte sich 1944  auch bis nach Bremen herumgesprochen.

In dem Verfahren übergab Jakob Peters eine Liste, die heute eines der wichtigsten Dokumente zur NS-Verfolgungsgeschichte der Bremer Sinti und Roma ist.

Sie enthält die Namen von 158 Personen, deren Vermögen nach ihrer Deportation vom Schlachthof im März 1943 eingezogen wurde – veröffentlicht in einer Bekanntmachung des Senators für die innere Verwaltung in der „Bremer Zeitung“.

Quelle: Hans Hesse: Die Bambergers. Fragmente zur NS-Verfolgung und zum Gedenken einer Bremer Sinti-Familie. In: Bremisches Jahrbuch 96, 2017

Für uns ist dieser Fund ein Glücksfall – handelt sich hierbei doch um die bislang einzige erhaltene ‚Deportationsliste‘ der Bremer Sinti und Roma. Deren Übergabe an den Öffentlichen Kläger zeigt, dass es die überlebenden Sinti und Roma selber waren, die den Ermittlern nach 1945 die zentralen Nachweise ihrer Verfolgung übergaben. In der Hoffnung, dass die Täter zur Verantwortung gezogen würden.

Eine Hoffnung, die sich nicht erfüllen sollte, wie wir heute wissen. Die Täter kamen ungeschoren davon – von den verantwortlichen Polizisten wie dem Leiter des Bremer „Zigeunerdezernats“ Wilhelm Mündtrath bis zu den sogenannten Wissenschaftlern wie Robert Ritter und Eva Justin von der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ in Berlin.

Zu den anderen Stationen des Rundgangs:

Start: Vom Waller Friedhof zum alten Schlachthof – auf den Spuren der Sinti und Roma im Bremer Westen

  1. Waller Friedhof – ein Grab als Denkmal
  2. Mitten in Walle – Von Nachbarn denunziert, von Polizisten erfasst
  3. Leben auf der Parzelle – Ein Schmuckstück und eine Liste
  4. Blütenstraße – Wohnort des Haupttäters
  5. Gothaer Straße – Als Schulkind deportiert
  6. Am Torfhafen – Anzeige gegen den Haupttäter
  7. Findorffstraße 99 – Mit den Betten zum Schlachthof gebracht
  8. Schlachthof – Drei Tage im März
  9. Familie-Schwarz-Platz – ein Stadtteil erinnert sich  
  10. Die Spur der Steine – Für einen würdigen Gedenkort
  11. Musikalischer Ausklang mit dem Dardo Balke-Trio

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