Gothaer Straße – Als Schulkind deportiert

Obwohl die gesetzliche Grundlage dafür erst mit einem Erlass von 1941 geschaffen wurde, sind Sinti- und Roma-Kinder vielerorts bereits Ende der 1930er Jahre systematisch aus dem Unterricht ausgeschlossen oder in sogenannten „Zigeunerklassen“ von den anderen Schüler:innen getrennt worden.

Der Erlass, wonach „Zigeunerkinder“ von der Schule verwiesen werden konnten „soweit sie in sittlicher und sonstiger Beziehung für ihre deutschblütigen Mitschüler eine Gefahr bilden“, wurde im Reichsgebiet unterschiedlich umgesetzt.

Schule an der Gothaer Straße, 2021/Foto: PaulBommel/Lizenz: creativecommons/by-sa/3.0

 

Mindestens drei der schulpflichtigen Kinder der Sinti-Familie Schwarz aus der Findorffstraße 99 gingen im März 1943 auf die Schule an der Gothaer Straße in Findorff, die damals eine Sonderschule war und heute zur Oberschule Findorff gehört.

 

 

 

Für Gisela, Albara und Friedrich Schwarz liegen die Schulbescheinigungen vor, die nach dem Krieg für das Amt für Wiedergutmachung ausgestellt wurden. Es ist unklar, wo sich die drei Kinder befanden, als ihre Eltern am 8. März 1943 von der Polizei abgeholt wurden und zum benachbarten Schlachthof gebracht wurden.

 

 

 

Eine Nachbarin erinnerte sich nach dem Krieg an ein anderes Detail dieser Aktion. Gelesen wird die Aussage abermals vom Schauspieler Rolf Becker.

Belegt ist, dass in Bremen-Blumenthal am 8. März 1943 der vierzehnjährige Friedrich Bamberger und der elfjährige Hermann Bamberger aus der Schule an der Fresenbergstraße sowie der siebenjährige Karl Bamberger aus der Schule an der Lüder-Clüver-Straße direkt aus dem Unterricht von der Polizei abgeholt und zum Schlachthof transportiert wurden.

Friedrich Bamberger (Quelle: Staatsarchiv Bremen)

 

Friedrich Bamberger wurde mit vierzehn Jahren aus der Schule an der Fresenbergstraße in Bremen-Blumenthal von der Polizei abgeholt und mit seiner Familie über den Bremer Schlachthof nach Auschwitz-Birkenau deportiert, wo er nach acht Monaten ermordet wurde. 

Friedrich Bamberger wurde wie die schulpflichtigen Kinder der Familie  Schwarz in Auschwitz umgebracht. Aus zahlreichen Städten sind ähnliche Vorgänge bekannt und tragen dazu bei, dass viele Eltern aus Sinti-Familien bis heute Ängste haben, ihre kleinen Kinder allein in die Obhut der Schule zu geben.

 

„Was für eine pure Angst“

„Was für eine pure Angst, wenn der Name Schule  angesprochen wurde. Meine ältere Schwester, mein Bruder und noch ein mittlerer Bruder sind aus der Schule heraus verhaftet worden. Ich bin bis zum vierzehnten Lebensjahr regelmäßig zur Schule hin hingebracht und wieder abgeholt worden. Nie bin ich allein gewesen. Das wurde nie erklärt, man merkte nur, wie meine Mutter dann wirklich anfing zu jammern.“

Dies berichtete ein Hamburger Sinto im Jahr 2016. Der Bericht wird von Ralf Lorenzen nachgesprochen, der das Interview führte.

Die hier geschilderten  Erfahrungen werden bis heute von Generation zu Generation weitergegeben. Im wissenschaftftlichen Jargon werden sie so beschrieben:

„Im Falle der Ende Februar 1943 einsetzenden Auschwitz-Deportationen ist bezeugt, dass Sinti- und Roma-Kinder, die die öffentlichen Schulen zu diesem Zeitpunkt noch besuchen durften, während des Unterrichts abgeholt wurden. (…) Diese Erfahrung tiefster Entmenschlichung prägte nicht nur das Leben der wenigen, die dem Terror entrinnen konnten, sondern wirkte als intergenerationelles Trauma über die unmittelbare Opfergeneration hinaus. (Aus: Ungleiche Teilhabe. Zur Lage der Sinti und Roma in Deutschland. Romnokher-Studie 2021).

Exemplarisch für das erlittene Trauma steht das Protokoll einer Aussage beim Amt für Wiedergutmachung.
„Auf die Frage nach eigenen Erinnerungen an die Zeit der Deportation denkt Herr R. längere Zeit nach und fängt dann an zu weinen. Er beginnt seine Schilderungen damit, dass er den Eltern später Vorwürfe gemacht habe, dass er nicht zur Schule geschickt worden sei.

Er habe sich geschämt, dass er nicht lesen und schreiben konnte.

Jetzt wisse er auch, warum die Eltern die Kinder nach 1945 oft versteckt hätten, wenn sie uniformierte Männer gesehen hätten. Er erinnere sich daran, dass er außerhalb der Familie manchmal monatelang niemanden gesehen habe. Die Mutter habe im KZ oft darauf geachtet, dass er nicht aus den Fenstern der Baracke schaue. Er habe es, wie andere Kinder auch, aber trotzdem getan und habe Berge toter Menschen gesehen.“ (Aus: Hans Hesse: …wir sehen uns in Bremerhaven wieder… . Die Deportation der Sinti und Roma am 16./20. Mai 1940 aus Nordwestdeutschland).

Auch  wenn in diesem Protokoll Empathie durchscheint –  im behördlichen Umgang mit den zerstörten Bildungswegen zeigt sich das, was die Überlebenden und ihre Angehörigen als „zweite Verfolgung“ wahrgenommen haben. Im Bericht der von der Bundesregierung eingesetzten „Unabhängigen Kommission Antiziganismus“ heißt es : „Auch die Anerkennung von Nachteilen im beruflichen Fortkommen wurde behördlicherseits abgewehrt, unterstellte man doch, dass Sinti_ze und Rom_nja keiner geregelten Arbeit nachgehen würden. Ebenso wurden Ausbildungsschäden nicht anerkannt, mit der Unterstellung, dass die Kinder ohnehin nie zur Schule gegangen seien. Dass der Schulausschluss Teil der Verfolgungs­erfahrung und vom NS­-Staat ausgegangen war, wurde schlicht ignoriert.“

Der Chor der Oberschule Findorff beteiligt sich im Jahr 2019 an der Aufführung von „Drei Tage im März – vom Schlachthof nach Auschwitz“ im Kulturzentrum Schlachthof. Drei der deportierten Kinder der Familie Schwarz besuchten die heute zur Oberschule gehörende Schule an der Gothaer Straße.

 

 

 

Vertiefung:

Hans Hesse. Den Opfern ein Gesicht geben 

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